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„Wir sind nicht als Eroberer gekommen“

Die Garnisonsstadt Neuruppin in der Mark Brandenburg hofft auf den zügigen Abzug der Sowjets/ 40 Jahre offizielle Freundschaft sind endgültig passé  ■ Von Uta Alexander

Eine ungewohnte Stille lag über Neuruppin, als Deutschland eins wurde. Dem Fremden fiel sie nicht sonderlich auf, die Bewohner indes registrierten sie mit Erleichterung. Jahrelang hatten sie nicht darauf zu hoffen gewagt, daß es einmal wahr wird: Kein Flieger donnert über die kleine Stadt. Zum Kaiserwetter paßte die himmlische Ruhe. Die möchten sie nun immer haben, doch erst einmal dauerte sie nur eine Woche.

Neuruppin ist der einzige Militärflugplatz in Europa, der mitten in einer Stadt liegt. Bundesverteidigunsminister Gerhard Stoltenberg meldete Vereinbarungen über „weitreichende Einschränkungen“ für künftige Übungen der Sowjettruppen auf einstigem DDR-Gebiet. Sie dürfen nicht mehr außerhalb ihres eigenen Geländes üben, die Zahl der beteiligten Soldaten darf 13.000 nicht überschreiten.

Doch noch lärmen die Maschinen bei Tag und Nacht, noch schrecken Kinder aus dem Schlaf, fluchen Männer in der Kneipe über „die Freunde“, die endlich verschwinden sollen. Über 40 Jahre hatte man sich mit ihnen arrangiert, hatte gemeinsam gefeiert, sich bei offiziellen Anlässen gegenseitig Erfolge beim Aufbau des Sozialismus vorgegaukelt. Die Kinder trafen sich zum Jolka- Fest oder zum Samowar-Nachmittag, die Alten schauten sich manchmal im Haus der Offiziere Filme, später Videos an. Das war der feste Bruderbund, wie ihn die Neuruppiner erlebten — doch jetzt ist damit Schluß.

„Die Sowjets hatten es ja ganz gut hier“

Jetzt ist sowieso alles anders. Die DDR existiert nicht mehr. Sollen sie doch abziehen, die „armen Kerle“, wie sie hier auch genannt werden. „Ein Hungerwinter steht den Russen bevor“, glauben sie zu wissen. „Hatten es ja ganz gut hier, bei ihnen zu Hause wird's schlimm ohne Wohnung, womöglich ohne Arbeit.“ Immerhin etwas, was bleibt nach Jahrzehnten Nebeneinanderlebens: Die Neuruppiner spüren untrüglich — die Ereignisse im Osten gehen sie durchaus etwas an.

Diesen Winter über werden die Truppen wohl noch bleiben, auch wenn niemand genau weiß, wann die Soldaten und Offiziere endgültig abziehen. Lehrerinnen der zehnklassigen russischen Schule in Neuruppin, die in ihrer besten Zeit 1.200 Schüler hatten, sehen, wie ihre Einrichtung schrumpft. Ludmila Wodsinskaja zeigt keine Traurigkeit: „Wir sind Offiziersfrauen, sind das Umziehen gewohnt. Wie es befohlen wird, so wird es auch gemacht.“ Sie, die in den älteren Klassen Geschichte unterrichtet, spürt aber das gesteigerte politische Interesse der Kinder, die hier den Einstieg in die Marktwirtschaft erleben. Alle blicken voller Hoffnung auf ihr eigenes Land, das es in 500 Tagen packen will.

Im August und September ging's voran mit dem Truppenabzug. Da fuhren täglich Züge mit Panzertechnik in Richtung Osten. Die Neuruppiner Stammtischrunden üben sich in Spekulationen: Ganze Einheiten sollen im Wald liegen und streiken. Unmöglich zu prüfen, was dran ist. Jetzt wird nichts mehr verladen, sagen Eisenbahner. Heißt das, daß alles verstaut ist? Und wann werden die Leute der Technik folgen? Sowjetische Militärs im Haus der Offiziere können auch nur spekulieren. Sie rechnen mit Frühjahr oder Herbst nächsten Jahres. Ihr Haus, gedacht als Begegnungsstätte, funktioniert noch. Innen alles beim alten: Geschönte Porträts von Afghanistan-Helden, dazu sentimentale Verse. Außen zeigt sich die neue Zeit: Einladung zur Travestie-Show, zu der Hamburger Privatleute den Offizieren verhalfen.

Über ihre eigene Zukunft äußern sich die Offiere nicht. Immerhin habe jeder von ihnen eine Ausbildung. Von Vorhaben, in der Ex- DDR stationierte Sowjetbürger zu schulen, wissen sie nichts. Hinten im Offiziershaus werde schon ausgeräumt, wollen Nachbarn gesehen haben. Das Gebäude, nach dem Krieg als Waisenhaus genutzt, soll einem bundesdeutschen Privatmann gehören. Eine andere Villa aus SU-Armeebesitz, das sogenannte „Weiße Haus“, steht schon leer.

Die Militärs bereiten sich mit Großeinkäufen von Hi-Fi- und Videogeräten auf die bevorstehende Heimreise vor, auf den Gebrauchtwagenmärkten sind sie gute Kunden. Die Deutschen gehen angesichts der nun vollen Schaufenster nachsichtig darüber hinweg. Bis zum Juli hatte es böses Blut im Städtchen gegeben, weil die Offiziersfrauen Obst oder Kinderkleidung in großen Mengen wegschnappten. Es herrscht Überdruß, kein Haß. Aber es könne welcher entstehen, wenn die kleine Gruppe Zulauf erhält, die schon öfter Randale machte und sowjetische Militärangehörige schikanierte.

Kein Interesse an Versöhnung?

Das „Russenmagazin“ betreibt Ausverkauf. Die Verkäuferinnen sind traurig. Schicksalsergeben hoffen sie, daß vielleicht ein Deutscher den Laden übernimmt und sie gleich mit. „Fragen Sie die Leute, sie haben immer gern bei uns gekauft, wenn sie von der Arbeit kamen. Wir hatten auch am Wochenende auf, hier gibt es weiter keine Läden.“ Anders als die Lehrerinnen geben sie Einblick in ihr Leben: zwölf Familien leben auf einem Korridor, sechs Frauen benutzen gemeinsam die Küche.

Neben dem „Magazin“ dient ein Baumstamm als Anzeigetafel: russische Familien suchen Käufer für Mobiliar, Kinderwagen, Kinderbettchen. Zwei Zirkel werben — leider nur in Russisch — für Pop-Gymnastik und Nähen. Verschenkte Gelegenheiten, gemeinsam Spaß zu haben. Liegt es nur an der Sprachbarriere? Zu Ende der Honecker-Ära soll die Abschottung mehr von den Deutschen ausgegangen sein, beklagt an der russischen Schule die Leiterin des „Drushba-Klubs“. Doch die sowjetische Seite war auch nicht besser: Wer bei Privatbeziehungen mit Deutschen ertappt wurde, bekam sofort den Marschbefehl in die Heimat.

Neuruppins Superintendent Schulze bedauert, daß eine wichtige Chance verpaßt wurde. Wenn Menschen zweier Völker lange Zeit so eng zusammenleben, hätten sie einander besser kennenlernen können. Als die Kirche kürzlich einlud zu einer Aussprache über die Versöhnung von Sowjets und Deutschen, kamen weder Sowjets noch Deutsche. Blieb nur die eher hilflose Geste, Friedenskraniche zu falten für die sowjetischen Kinder in der Hoffnung, sie mögen eine gute Erinnerung an Neuruppin mit nach Hause nehmen.

Auch die Hinterlassenschaft der Truppen macht Sorgen. Da sind Tanklager, Panzerwaschplätze, lagern möglicherweise unsachgemäß Chemikalien. Stellenweise wird vergiftete Erde ausgetauscht werden müssen. Das kann teuer werden. Wer bezahlt das alles?

Das letzte Wort darüber ist noch nicht gesprochen. Position der sowjetischen Seite bei den Verhandlungen über den „Abzugsvertrag“: Die Sanierung der verrotteten Kasernen und die Beseitigung des von ihnen verursachten Umweltdesasters müsse der künftige Eigentümer finanzieren. Das wird der deutsche Steuerzahler wohl oder übel schlucken müssen, doch der hat in ostdeutschen Landen auch nicht gerade dicke Brieftaschen. In der Neuruppiner Region ist jeder Zehnte arbeitslos. Sanfter Tourismus in der Mark Brandenburg soll Beschäftigung bieten. Doch paßt der in ein Gebiet, wo Blindgänger lauern und die Wälder von Panzerspuren durchzogen sind?

Wie also kommt Geld ins Stadtsäckel, das laut Bürgermeisterin Silke Bringmann ein Defizit von 1,5 Millionen Mark aufweist? Das Armeegelände reizt die Bundeswehr. Ein verlockender Gedanke in einer Situation, da viele Betriebe auf Kurzarbeit sitzen. Doch bedenklich für die meisten, die zur Normalität zurück wollen: Sie sehen die Zukunft ihres Heimatortes nicht als Garnisonsstadt, obwohl Neuruppin als solche Tradition hat.

Wenn die Russen wirklich weg sind, bleiben Erinnerungen — und Gräber. Manche ganz frisch, mit Kindernamen. Die Deutschen sind ihnen die Pflege schuldig. Das war auch der erste Punkt, auf den die sowjetischen Unterhändler bei den Abzugsverhandlungen bestanden. Schließlich — so eine Offiziersfrau auf dem Neuruppiner Friedhof: „Wir sind hierher nicht als Eroberer gekommen, sondern nach einem Krieg, den wir nicht begonnen haben“.

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