: „Als Mensch bleibst du einfach draußen“
Die Historiker der Berliner Humboldt-Universität versuchten im zweiten Anlauf, sich ihrer Vergangenheit zu stellen ■ Von Götz Aly
„Schiller sprach von der Szene, die zum Tribunal wird!“ Mit diesem — eher mahnend gemeintem — Hinweis eröffnete Professor Laurens Demps die Verhandlung und mußte sich bereits eine halbe Stunde später fragen lassen, ob er denn als früherer SEDler überhaupt geeignet sei, die Versammlung zu leiten. Wieder ging es um die Vergangenheit der ehemaligen Sektion Geschichte an der Berliner Humboldt-Universität (taz vom 17.10. und 7.11.). Die Luft zum Schneiden, allenfalls noch Stehplätze gab es am Samstag morgen um zehn Uhr im Senatssaal der ältesten Berliner Universität. Gekommen sind Interessierte, Täter und Opfer, nebst dem Rektor Heinrich Fink, der je stickiger die Luft, desto häufiger als „Magnifizenz“ tituliert wird. Versammelt sind also Menschen, die „über sehr unterschiedliche Erfahrungen verfügen“, wie sich der Leiter der nun zum Institut herabgestuften Sektion, Adolf Rüger, ausdrückt.
Menschen aber auch, von denen sich die meisten untereinander gut, wenn nicht sehr gut kennen. Es geht ihnen um eine „friedliche Selbstbefragung, um Würde, um den Verzicht auf Heilslehren und vorgegebene Wahrheitsraster“, es geht ihnen vor allem darum, „die Ehre der Opfer wiederherzustellen“. Die Opfer, das sind die in den letzten Jahrzehnten gemaßregelten, relegierten, abgeurteilten oder einfach davongejagten Studenten und Dozenten; die Täter, das sind die kleinen studentischen Spitzel, die Funktionäre von FDJ und Partei, Professoren — angepaßt, übereifrig oder leisetreterisch. Pedantisch und gut vorbereitet referiert Rüger, was er über die Verfolgungs- und Ausgrenzungsgeschichte der Sektion feststellen konnte. Die Akten sind gefleddert, die Unterlagen dürftig. Dennoch: Trotz widriger Bedingungen hat sich Rüger an die Wahrheit herangetastet, er nennt die Namen der Opfer, aber kaum die der Täter, es sei denn, sie sind tot oder haben die Universität längst verlassen.
Professor Feil verlor sein Ordinariat, weil er 1968 angesichts der zweiten Invasion der Tschechoslowakei durch deutsche Truppen demonstrativ aus der SED austrat. Ein Student — Frank Mützel — wurde als, so wörtlich, „ideologisches Ausschußprodukt, dessen Produktion zu stoppen ist“ der Universität verwiesen. Insgesamt galt die damalige Disziplinierung von 16 Studenten und Studentinnen. Im Jargon der Partei, die bekanntlich immer Recht hatte, handelte es sich um eine „Konzentration von Studenten mit feindlichen und anderen Verhaltensweisen“. Ihnen fehlte das, was man an der Humboldt-Universität „die erforderliche politische und moralische Reife“ nannte, sie hatten sich einer „langfristig angelegten Feindtätigkeit“ schuldig gemacht. Die Bestrafungen waren exemplarisch gemeint, sie dienten der Einschüchterung. Vier Jahre später — es ging um Wolf Biermann — drohte der FDJ-Sekretär Winfried Schulz in einem entsprechenden Verfahren: „Jeder, der zu den Anschuldigungen gegen den zu exmatrikulierenden Studenten Rainer Eckert schweigt, solidarisiert sich mit ihm.“ Und eine Angehörige des Disziplinarausschusses (Frau Demgenski) fügte hinzu: Selbst der Versuch, das Verhalten des Studenten Eckert zu verstehen, sei verwerflich...
Während Rüger die Rückwirkungen, die eine solche Politik für Forschung und Lehre zeitigte, als noch offene Frage verdrängt, spricht sein Kollege, der „notorische Nicht- Marxist“ und Spezialist für Geschichte des Mittelalters... Sielaff, von „einer schandbaren Entwicklung“. Sein ehedem durchaus angepaßter Fachkollege Günter Vogler — in der Luther-Zeit ebenso bewandert, wie im Unterschreiben von Relegationsverfügungen — versucht immerhin das Problem zu thematisieren: Er spricht von dem „verhängnisvollsten Prinzip — der Einheit von Politik und Wissenschaft“, das die wissenschaftliche Arbeit zugrunde gerichtet habe.
Stefan Wolle, heute mit der Untersuchung der ehemaligen Staatssicherheit beschäftigt und früheres Opfer von Vogler und seinesgleichen, macht greifbar, was dieses so abstrakt formulierte Prinzip praktisch bedeutete: „Menschen wurden gezielt gebrochen, psychischer Terror ausgeübt. Menschen wurden zur Denunziation gezwungen.“ Und er folgert: „Leute, die dafür Verantwortung tragen, können als Hochschullehrer nicht mehr geduldet werden.“ Manch einer müsse „davongejagt werden“. Besonders schlimm aber sei, daß jahrzehntelang „Dummheit und Mittelmäßigkeit geduldet wurden, vorausgesetzt, die Beteiligten waren politisch brav“. Viele Seminare seien einfacher Zeitdiebstahl, so sieht es jedenfalls einer, der noch studiert.
Daß der professionelle Apologet für „Geschichte“ der DDR, Siegfried Prokop, der immer und immer wieder über die „Etappen“ und „Gesetzmäßigkeiten“ im „Vorfeld“ irgendwelcher Parteitage schrieb, zu gehen habe, darüber herrscht im Saal Einigkeit. Prokop repräsentiert jene Mittelmäßigkeit, die sich der parteiamtlichen Fesseln ebenso verdankt, wie den Holprigkeiten des kollektiven zweiten Bildungsweges, die das Problem der gesamten Intelligenz der ehemaligen DDR sind.
Schwieriger aber der Fall des Professors Kurt Pätzold. Er sitzt im Saal. Er hat 1968 und 1972 an Relegationen unmittelbar mitgewirkt. Im Gegensatz zu Prokop könnte der 60jährige „von der Vorruhestandsregelung Gebrauch machen“. Das legen ihm vorzugsweise diejenigen nah, die an der ehemaligen Akademie der Wissenschaften der Arbeitslosigkeit entgegensehen. Nur: Wenn auf jemanden das Verdikt der „Mittelmäßigkeit“ nicht zutrifft, so zweifelsohne auf ihn. Pätzold ist Spezialist für die Zeit des Nationalsozialismus. Seine Werke zur Verfolgung der deutschen Juden werden — zieht man ein paar Floskeln ab — Bestand haben. 1965 kam er als Assistent an die Humboldt-Universität, 1973 berief sie ihn zum ordentlichen Professor. Die Beteiligung Pätzolds an politischer Verfolgung fand also just in der Zeit statt, als er seine Karriere schmiedete. Pätzold hat sich öffentlich entschuldigt. Aber die, die er damals zu den „Feinden“ abstempelte, akzeptieren diese Entschuldigung nicht. Pätzold versucht sein Verhältnis zur damaligen Macht, zur Vision einer Gesellschaft jenseits des Kapitalismus zu erklären. Er wiederholt seine Entschuldigung und erntet die Frage:
„Können Sie sich vorstellen, daß es ohne Sie weitergeht?“
— „Selbstverständlich!“
Zu den konkreten Vorwürfen, zu seinem persönlichen Verhalten aber schweigt Kurt Pätzold. Noch 1977 warf er den politisch unliebsamen Studenten Bernd Florath höchst persönlich aus seinem Seminar. Wenn es dabei geblieben wäre. Florath — übrigens der einzige, der sich an diesem Tag zum Marxismus bekennt — erzählt, wie sich der Faschismusforscher anschließend mit dem berühmten Liebermann-Zitat aus dem Jahr 1933 an die anderen Studenten wandte: „Ich kann gar nicht soviel essen, wie ich kotzen möchte!“ Pätzold hat hier — kein Zweifel — den Aufschrei eines Verfolgten in eine Parole der Verfolgung und Ausgrenzung verwandelt. Pätzold schweigt auch dazu. Aber: Er gehört zu denen, die darauf verzichteten am 23.Februar dieses Jahres ihre Kaderakten zu reinigen. Auch nehmen ihn alle Studenten, die in den 80er Jahren studierten und noch studieren in Schutz. In seinen Seminaren spricht er darüber, was er „früher über Faschismus und Antifaschismus lehrte, und was (er) heute dazu denkt“. Schließlich fordert Irene Runge, die sich kurzzeitig fragen lassen muß, ob sie nun Jüdin oder Halbjüdin sei, dazu auf, die schwierige Diskussion in kleinen Gruppen fortzusetzten. Die Debatte sei einfach „viel zu öffentlich“. Irene Runge hat vor zwei Jahren ein Buch zur Pogromnacht veröffentlicht — zusammen mit Pätzold. Er, der disziplinierte Kader aus einer traditionell kommunistischen Familie, ist es wohl, den sie in diesen kleinen Gruppen zum Sprechen bewegen will. „Kurt Pätzold“, fleht sie ihn fast schreiend an, „du kennst unser Problem mit dir! Kurt Pätzold, du redest über –Bedingungen, aber nicht über die Menschen! Als Mensch bleibst du einfach draußen, und das macht die Leute wahnsinnig!“
Zwischen Vorruhestand und Aussitzen, zwischen überschneller Anpassung und Rechthaberei bleibt nach dieser Veranstaltung eine winzige Hoffnung, daß die Täter und Opfer eine gemeinsame Sprache finden.
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