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„Demokratie — jetzt oder nie!“

Macht um der Verantwortung willen — das neue Buch von Wolfgang Ullmann  ■ Von Jens Reich

In ihren späten Tagen war jene unsägliche letzte Volkskammer aus ihrem lichtdurchfluteten Gehäuse im Palazzo Prozzi in den inneren Sitzungsraum des ehemaligen Zentralkomitees umgezogen, angeblich „wg. Asbestverseuchung“, — das, obwohl im neuen Sitzungssaal nach gewissen Gerüchten noch mehr Asbestfasern in der Luft umherschwirrten. Dort war die Sitzordnung nicht mehr fest, und man konne sich mitten unter die Allianzabgeordneten setzen, ohne daß die stets aufmerksame TV-Kamera das als Desertion zum politischen Feind brandmarken konnte. Ich saß also unter denen, die die Einheit mit Macht und möglichst sofort durchsetzten, und konnte meine Beobachtungen machen unter anderem darüber, wie groß der Haß auf den Vizepräsidenten Wolfgang Ullmann war. Rauflustige Zwischenrufe und wütende halblaute Bemerkungen bezeugten, daß dieser Mann, ein Theologe, von den neuen Vertretern einer christlichen Partei als Renegat betrachtet wurde. Keinen Augenblick verleugnete er, daß er Pastor und Kirchengeschichtler ist, wie konnte er dann in diesen grünen Chaotenverein „Bündnis 90“ geraten, was trieb ihn um, am Runden Tisch eine demokratische neue Verfassung zu entwerfen, seinen guten evangelischen Namen für die Regierung Modrow herzugeben, für die DDR-Bevölkerung Anteilscheine aus dem Volkshandvermögen als Kompensation für erlittene Benachteiligung zu verlangen, einen bußfertigen Umgang mit der Stasi-Verstrickung zu fordern...

Aus seinem neuem Buch wird klar, wo dieser Wolfgang Ullmann steht. Daß er sehr konsequent aus seinem christlichen Ethos zum Radikaldemokraten wurde. Daß er in protestantischen Traditionslinien steht, die bei uns verstellt und im Westen längst zu stromlinienförmiger Modernität glattgebügelt sind. Klar wird, in welchem Maße Ullmann ein lebender Anachronismus ist, nämlich einer der wenigen aus diesem 200-Tage-Parlament, der in Ehren und ohne als Fremdkörper zu wirken auch im Frankfurter Paulskirchenparlament von 1848 hätte gewesen sein können. Man erkennt, wie altmodischer geistiger Habitus und radikale Modernität zusammenpassen können. Wie man zur Forderung nach Erneuerung unserer europäischen politischen Kultur gelangen kann aus einem engagierten Gegen-den-Strich-Denken von Platon, Augustin, Thomas von Aquino, Hamann oder Hegel. Wie man festhalten kann an Ideen wie der Dialogform des Zentralen Runden Tisches, an dessen Verfassungsentwurf, an seiner Sozialcharta, am Ziel eines Bundes Deutscher Länder, an der Vereinigung nach Artikel 146 anstelle der Aufsaugung im Gefolge (und entgegen dem geistigen Sinn) des Artikel23.

Wer an Problemen dieser Art noch Interesse hat — und das müßten eigentlich sehr viele sein, die sich finden werden, wenn der gegenwärtige Bombast-Polit-Staub sich gesenkt haben wird —, der sollte sich das Buch besorgen. Es ist zum Teil als Gespräch aufgebaut, enthält einige aktuelle Aufsätze von Wolfgang Ullmann und eine kurze Autobiographie (sehr wertvoll, um seinen geistigen Standort zu verstehen). Ich kann versprechen, daß keine unverständlichen professoralen Sequenzen das Verständnis behindern, daß man die Gedankengänge genau verfolgen kann, auch wenn man kein Griechisch und Latein studiert hat. Dieser Mann gehört zu den wenigen originellen Figuren, die der Herbst 1989 in die deutsche Politik geweht hat. Wir wollen hoffen, daß das Volk der Sachsen, das jetzt oft auf Unverständnis stößt, weil es einer Herrschaftspartei die absolute Mehrheit gibt, daß es Verstand und Sinn für Originalität genug aufbringt, diesen Mann mit in den Bundestag zu wählen. Die Grün-Bürgerbewegten waren bereits einsichtig und haben ihn auf Platz 1 gesetzt. 100.000 klarsichtige Sachsen könnten dieser skurrilen politischen Pflanze mit ihrer Zweitstimme in der Monokultur der Krawattenträger ein kleines Biotop zu sichern.

Der sperrigste unter seinen Gedanken war für mich, daß er Macht will, um seiner Verantwortung gerecht zu werden. Er denkt, es ist nicht richtig, Ministerpräsident wider Willen zu werden, wie der Herr de Maizière von sich gesagt hat. Hand aufs Herz. Wer von uns will Herrn Ullmann als Bundeskanzler haben? In Deutschland ein absurder Gedanke, aber warum nicht, wenn anderswo Musiker oder Stückeschreiber zu Präsidenten wurden?

Wolfgang Ullmann. Demokratie — jetzt oder nie · Perspektiven der Gerechtigkeit. Verlag Kyrill&Method (München) 1990, 200 Seiten, DM 19,80.

Anläßlich der Buchpremiere laden wir zum taz-forum ein. Unter dem Titel „Demokratie — Wer, wenn nicht wir“ diskutiert Wolfgang Ullmann heute abend mit den taz-RedakteurInnen Georgia Tornow und Klaus Hartung. Zeit: 19.30 Uhr, Ort: Haus der Demokratie, Friedrichstraße 165, O-1080 Berlin.

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