Ein Ossi auf Stimmenfang bei den Wessis

Wolfgang Templin will „ Vermittlungsarbeit“ zwischen Ost und West leisten/ Über die Liste der Grünen Nordrhein-Westfalens in den Bundestag  ■ Von Walter Jakobs

„Ich freue mich ungemein, daß Leute wie Wolfgang dem nächsten Bundestag angehören.“ Er sei, so fährt Ansdgar Klein fort, nach dieser Veranstaltung „neu motiviert“, sich in der Endphase des Wahlkampfes besonders anzustrengen. Ansdgar Klein, ein Mittfünfziger und Gymnasiallehrer, ist Direktkandidat der Grünen in der nördlich von Aachen liegenden Kleinstadt Würselen. Mehr als zwei Stunden lang hat Wolfgang Templin in der Gaststätte Houben mit etwa zwei Dutzend Frauen und Männern diskutiert. Bei dem grünen Familientreffen — man spricht sich mit Vornamen an — trifft der Ostberliner Menschenrechtler, den die nordrhein-westfälischen Grünen auf den sicheren Platz vier ihrer Landesliste gewählt haben, zunächst auf ein dankbares Publikum.

In NRW ist Templin kein Unbekannter. 1988, von SED und Stasi aus dem Land getrieben, landete der 41jährige mit seiner Familie in Bochum. Aus der SED 1983 ausgetreten, weil er die Verantwortung für die Politik der Partei, so die Begründung, „nicht mehr mittragen“ konnte, führte ihn sein Weg zunächst in die unter dem Dach der Kirche operierende DDR-Friedensbewegung. Weil dieses Dach im SED- Staat zur Beherbergung einer konsequenten Menschenrechtsgruppe zu schmal war, gründete er 1985 mit einer kleinen Gruppe die „Initiative für Frieden und Menschenrechte“. Der Honecker-Staat reagierte mit verstärkter Repression und ließ den Menschenrechtler zusammen mit seiner Frau 1988 wegen „landesverräterischer Agententätigkeit“ inhaftieren. Danach die erzwungene „Verbannung“ aus der DDR. Während Zehntausende ihr Land verließen, kehrte die Familie Templin im Herbst 1989 nach Berlin zurück.

Jetzt hat die erste gesamtdeutsche Wahl Wolfgang Templin wieder in den Westen verschlagen. Die gemeinsame Kandidatur von Grünen und Bündnis 90 ist für ihn „mehr als ein pragmatischer Bechluß“. Er fühlt sich in diesem Bündnis wohl, „weil die Grünen noch keine verkrustete Partei sind“. Die grün-internen Grabenkämpfe versucht er zu meiden, auch wenn ihn seine Kandidatur ins Zentrum des Flügelstreits führte. Bei den Parteilinken „galt ich als Realo, nachdem ich klar gesagt hatte, daß es mit der PDS nicht gehe. Da ich zum Realo auch nicht taugte, orteten mich die Leute plötzlich beim Aufbruch“. Die Verwirrung erklärt er sich mit dem stereotypen Blick der Wessis, die nicht auf „die Personen gucken, sondern auf die Etiketten“.

Im Wahlkampf kommen versöhnliche Töne bei den Grünen flügelübergreifend gut an. Emotionen weckt Templin, der seine Sicht der Dinge im immer gleichen Tonfall ruhig vorträgt, wenn er sich über die bundesdeutsche Realität äußert. Sein knapp zweijähriger Zwangsaufenthalt im Westen habe ihn erstmals erkennen lassen, „wie wahnsinnig zurückgeblieben die DDR“ sei. Dabei denkt Templin nicht zuallererst an den ökonomischen Abstand, sondern an den Mangel von „bürgerlicher Selbständigkeit“ in der alten DDR-Gesellschaft. Im Westen habe er zum ersten Mal so etwas „wie Momente einer zivilen Gesellschaft“ gespürt, „z.B. wie wesentlich offener die Ausländer hier lebten“. Bei dieser Bemerkung rührt sich beim Publikum in Würselen erstmals Widerspruch. Ein Lob auf die Toleranz der alten bundesdeutschen Gesellschaft? Das trifft mitten in die Seele der an den Westverhältnissen leidenden Grünen. „Dann kennst du ein anderes Deutschland als ich“, ruft eine Frau, reflexartig die rechtsradikale Bedrohung durch Skins, Reps und und und aufzählend. Für „diese Abwehrhaltung“ äußert Templin „zwar Verständnis“, aber er beharrt darauf, daß die Situation in der DDR für die Ausländer „unvergleichbar“ schlechter und die Toleranz im Westen „wesentlich stärker“ sei. Das Publikum hört seine Worte, glaubt ihm aber nicht. Als strafmildernd gilt den meisten allenfalls seine mangelnde Westerfahrung. Da hilft auch nicht der schüchterne Hinweis einer Frau, daß Templin doch immerhin der einzige im Raum sei, der beide Gesellschaften kenne.

Ein paar Tage später, bei einer Podiumsdiskussion mit den Bundestagsabgeordneten von SPD, CDU und FDP in der Aula des Düsseldorfer Theodor-Flieder-Gymnasiums, hätte Templin für solche Argumente sicher rauschenden Applaus geerntet. Doch hier geht es um anderes. Vor dem wohlbestallten bürgerlichen Publikum muß Templin sich des Versuchs erwehren, ihn als edlen DDR-Oppositionellen quasi überparteilich zum Heiligen zu erklären, um dann über seine praktisch-politischen Vorstellungen zur Zukunftsbewältigung um so rascher hinwegzugehen. Zur Wirtschaftspolitik wird er gar nicht erst befragt. Das Gespräch plätschert auf einer solchen Abstraktionsebene dahin, daß die Unterschiede zwischen den vier Kandidaten immer wieder von salbungsvollen „Sprechblasen“, so Templin, zugeschüttet werden. Als Templin und Michael Müller, linker Flügelmann der SPD, sich etwa für die Gleichbehandlung von Wehr- und Ersatzdienst aussprechen, stimmen Burghard Hirsch (FDP) und Wolfgang Schulhoff (CDU) ihnen sofort zu, obleich die Koalition im Bundestag die Ungleichbehandlung per Gesetz in den letzten Wochen fortgeschrieben hat. Diesen Ball aufzunehmen und die verlogene Doppelmoral für eine scharfe Kontroverse zu nutzen, schafft Templin nicht. Als der CDU-Mann später meint, nun sei doch zunächst einmal Freude angesagt, „weil den DDR-Bürgern die Freiheit gegeben wurde“, reagiert Templin jedoch hellwach: „Den Menschen in der DDR wurde die Freiheit nicht gegeben, sondern sie haben sie sich erkämpft.“ Dafür bekommt er dann doch noch den stärksten Applaus des Abends.

In der Endphase des Wahlkampfes tritt Templin täglich in NRW auf. Eine unglaubliche Hetzerei, die er auf sich nimmt, weil er sich vorgenommen hat, „Vermittlungsarbeit“ zwischen Ost und West zu leisten. Dabei hat er festgestellt, daß „die Stimmung schlechter ist als die Situation“. Dem Wahlausgang sieht Templin mit Optimismus entgegen. Sein Publikum spürt davon wenig. Wenn der Menschenrechtler aus dem Osten mit traurigem Blick seine Vorstellungen erläutert, dann gerinnt die Politik zu einem anstrengenden, bitteren Geschäft. Auf ironische oder polemische Töne wartet man bei Templin vergebens. Beim Bier nach der Veranstaltung am Donnerstag abend in Bochum drückt es ein alter Bergmann, der mit den Grünen sympathisiert, so aus: „Wolfgang, mit dem was du gesagt hast, bin ich voll einverstanden, aber du mußt das mit mehr Feuer, ein bißchen lebendiger vortragen.“