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Entwurf für die neue Sowjetunion

■ Gorbatschows Verfassungsprojekt erkennt die Souveränität der Republiken an/ Weiter zentrale Kontrolle der Unterdrückungsorgane?/ Schwammige Kompetenzregelung auf ökonomischem Gebiet

Moskau (taz) — Endlich! Der mehrfach angekündigte, in Dutzenden Varianten hin und her gewälzte, von „wohlinformierten Beobachtern“ breit vorwegkommentierte Entwurf der Zentrale zur neuen sowjetischen Unionsverfassung ist am Samstag in der 'Prawda‘ und durch die 'Tass‘ veröffentlicht worden. Die immer noch offiziöse Nachrichtenagentur ließ verlauten, „der Entwurf ist das Ergebnis von Konsultationen mit den Republiken und von Debatten im Unionsrat der UdSSR“.

Tatsächlich folgt Gorbatschows Verfassungsdokument im Grundsatz den Souveränitätserklärungen der bisherigen Sowjetrepubliken: „Jede Republik ist ein selbständiger Staat und bestimmt die volle Staatsmacht auf ihrem Territorium“, heißt es in Artikel1 der Hauptprinzipien. Auch wird klargestellt, daß „die Republiken Eigentümer ihres Territoriums sind“, das heißt, daß alle Bodenschätze und Energiequellen der Union dem unmittelbaren Zugriff der Zentrale entzogen werden. Der Entwurf proklamiert den Vorrang der Menschenrechte als wichtigstes Prinzip der Vereinigung und bricht damit radikal mit dem marxistisch- leninistischen Bezugsrahmen, der die Union in die Entwicklungsperspektive des nationalen wie internationalen Klassenkampfs gestellt hatte.

Im Abschnitt über den Aufbau der Union wird statuiert, daß „die Gesetze der Republiken [...] Vorrang in allen Fragen haben außer denen, die in die Kompetenz der Union fallen“. Für den Fall von Kompetenzstreitigkeiten ist der Aufbau eines Verfassungsgerichtshofs vorgesehen. Unklar bleibt, ob dieses Gericht auch tätig werden kann, wenn Gesetze der Union oder der Republiken die Menschenrechte verletzen. Zur Kompetenz der Union gehört die Landesverteidigung und die Koordinierung der Außenpolitik aller Republiken, ferner die Außenhandelspolitik, Währungspolitik sowie alle Bereiche, die mit der „Verbrechensbekämpfung“ und der „Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung“ zusammenhängen — also die klassischen Operationsgebiete des KGB und des Innenministeriums. Wird diese Kompetenzenteilung schon schroffen Widerspruch bei den Republiken hervorrufen, so erst recht der Artikel 5 im Kapitel über den Unionsaufbau, der vorsieht, daß die ökonomische Strategie von der Zentrale und den Republiken „gemeinsam bestimmt“ werden. Hier wird es, soll die neue Union nicht scheitern, zu einer genauen Abgrenzung der Aufgaben kommen müssen.

Bei der Behandlung der Regierungsorgane im Entwurf ist der Einfluß des amerikanischen Präsidialsystems unverkennbar, allerdings wird das Amt des Ministerpräsidenten wider alles Erwarten beibehalten und der Ministerrat mit den Exekutiven der Republiken verkoppelt. Der Präsident (nicht sein Vize) wird vom Volk gewählt, führt den Vorsitz im Ministerrat und — letztes Überbleibsel des Sowjetsystems, das auf Gewaltenfusion statt Gewaltentrennung basierte — ist gleichzeitig Vorsitzender des aus allgemeinen und direkten Wahlen hervorgegangenen Unionsparlaments.

Der Verfassungsentwurf der Zentrale legt als erstes Prinzip für den Aufbau der Union fest, daß die Mitgliedschaft der Republiken freiwillig ist. Allerdings ist damit nicht gemeint, daß bisherige Sowjetrepubliken wie die baltischen Staaten oder Georgien, die nicht Mitglied der neuen Union werden wollen, dies durch die schlichte Nichtunterzeichnung des neuen Vertrags kundtun können. Sie sind weiter auf das kaum begehbare Austrittsgesetz verwiesen. Christian Semler

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