: Lafontaine glaubt selbst nicht an den Sieg
Der SPD-Kanzlerkandidat „bemüht sich sehr“ (Wahlhelfer Klimmt) um Stimmen in Ost- und Westdeutschland Die Lokalpresse beschreibt den Jubel in übervollen Wahlveranstaltungen, überregionale Medien lieben die Kritik an Oskar ■ Von Tina Stadlmayer
Bonn (taz) — „Der Wind hat sich gedreht — zugunsten der SPD“, frohlockte der sozialdemokratische Parteivorsitzende Hans-Jochen Vogel. Das Institut Allensbach hatte festgestellt: In zwei Wochen sind die Sozis in der Wählergunst um zwei Prozent gestiegen. Auf die Frage eines Journalisten, wie hoch ihr voraussichtlicher Stimmenanteil bei der Bundestagswahl damit liege, knurrte der Vorsitzende: bei 33 Prozent. Die Kollegen feixten — schließlich verkündet Kanzlerkandidat Oskar Lafontaine unentwegt, er werde bei der Wahl mindestens vierzig Prozent der Stimmen erreichen.
Kaum jemand mag daran noch glauben. Dennoch gilt in der Partei, wie stets zu Wahlkampfzeiten, die Parole: Optimismus zeigen. Dem Kanzlerkandidaten fällt dies auf seiner Tour durchs gesamte Deutschland allerdings nicht schwer. An allen Orten erwarten ihn jubelnde Fans. Im Osten klatschen sie rhythmisch Beifall und fordern Zugaben. Im Westen lacht das Publikum gröhlend über seine Kohl-Witze, die er in der Ex-DDR lieber wegläßt.
Es sind vor allem die Jüngeren, bei denen Oskar auf seinen Touren ankommt. „Kohl sitzt im Kanzleramt vor seinem Aquarium und studiert, was eine Eins mit zwölf Nullen ist.“ Derlei kommt bei ihnen gut an. Andere wiederum finden die Kabaretteinlagen peinlich. Sie interessieren sich mehr für sein politisches Programm. Und da bietet er für jeden etwas: Im Westen spricht er lange über den notwendigen ökologischen Umbau, im Osten sind Sozial- und Arbeitsmarktpolitik die Themen.
Sein Regierungsprogramm „Fortschritt 90“, das er bei seinen Wahlkampfauftritten unter die Leute bringen will, läßt die Konturen einer „neuen Republik“ erahnen. Die Leute im Saal, sei es in Rostock, Bonn oder Rosenheim, applaudieren höflich. Auch auf seine Abrechnung mit der zinstreibenden Schuldenpolitik der Bundesregierung reagieren sie verhalten. Viel Beifall erhält der Kandidat, wenn er etwas verspricht: eine SPD-Regierung werde den Jäger 90 streichen, den Weihnachtsfreibetrag wiedereinführen, für jedes Kind zweihundert Mark Kindergeld zahlen... oder für den zweideutigen Satz: „Bevor wir Soldaten an den Golf schicken, reden wir erst mal über die Rüstungsexporte!“ Und als er die fünf neuen Minister ohne Geschäftsbereich in die Pfanne haut — „Diese Nichtstuer kassieren 32.000 Mark im Monat, das ist eine schlichte Sauerei!“ —, spenden seine Zuhörer tosenden Applaus.
Speziell für seine jüngeren Fans hält Lafontaine nicht nur große Wahlkampfreden, sondern tritt auch bei den Konzerten „Stimmen für Oskar“ auf. Altstars mit jugendlichem Image wie Peter Maffay und Katja Ebstein, Donovan und The Kinks singen ihm zu Ehren. Der Kandidat hält eine Kurzfassung seiner Wahlkampfrede. Keiner ruft „Aufhören!“, wie das sonst bei Konzerten ist, wenn zwischendurch Ansprachen gehalten werden.
„Stehende Ovationen für Lafontaine“ ('Oberbayerisches Volksblatt‘), „Hunderte kamen nicht mehr ins Festzelt“ ('Aachener Nachrichten‘), „Ihr Auftritt, Oskar Lafontaine“ ('Bild‘ Hannover): die Sozialdemokraten servieren den Bonner JournalistInnen seit Wochen einen Pressespiegel mit Jubelartikeln aus Lokalzeitungen.
Das hat seinen Grund. Bitter beklagt sich der Kandidat, er werde von den Meinungsmachern der überregionalen Zeitungen und Magazine systematisch „niedergeschrieben“. Was stimmt ist: Dieselben Journalisten, für die er noch im vergangenen Jahr der Star war, kritisieren heute, er habe einiges falsch gemacht. Er habe zum Beispiel zuviel über „Fehlentscheidungen der Regierung beim Einführen der Währungsunion“ geredet, ohne klare Alternativen anzubieten.
Aber auch mit solcher Kritik kann Oskar Lafontaine nicht umgehen. Ob in der Saarbrücker Staatskanzlei oder in der Bonner Zentrale der Sozialdemokraten, am liebsten schart Oskar Lafontaine Berater und Journalistenfreunde um sich, die ihm erzählen, wie toll er ist.
Es war sicher nicht falsch, daß er sich dem nationalen Einheitsgedusel verweigert hat. Aber er hat sich eben auch zuwenig auf die Sorgen und Nöte der Ostdeutschen eingelassen. Inzwischen kommt er im Osten langsam an mit seiner Parole: „Die Einheit der Lebensverhältnisse ist wichtiger als die staatliche Einheit.“ Im Westen hat er viele Linke mit seinen Sprüchen vom „Mißbrauch des Asylrechtes“ vergrault — auch wenn er heute nicht mehr fordert, den Artikel 16 Grundgesetz zu verändern. GewerkschafterInnen haben ihm das Geplapper von der flexiblen Arbeitzeit, einschließlich Sonntagsarbeit, nicht ganz verziehen. Auf einer Betriebsräteversammlung in Bonn versäumte der Kandidat vor wenigen Wochen, diese für die Arbeitnehmer wichtigen Meinungsmacher auf seine Seite zu bringen. Er ging kaum auf ihre Fragen ein, und sehr schnell schwirrte er nach einer kurzen Rede wieder ab.
Lafontaine ist ein guter Redner, ein amüsanter Partyplauderer. Mit einfachen Leuten zu sprechen, fällt ihm schwer. „Es müßte langsam aufwärts gehen“, spricht ihn in Böhlen bei Leipzig eine Frau an. Der Kandidat schweigt. „Ich kann ihnen keine Wunder versprechen“, sagt er dann. Und: „Es sind Fehler gemacht worden.“ Er versteht nicht, daß die SPD in der ehemaligen DDR immer noch nicht so richtig ankommt. „Mir erzählen sie, wie beschissen es ihnen geht, und dann rufen sie wieder ,Helmut, Helmut‘“, wirft er den Bürgern der ehemaligen DDR vor.
Auf seine eigenen Leute kann er sich nicht verlassen. Nicht nur, daß sein „Chaos Combo“ genanntes Wahlkampfteam Betriebsbesichtigungen in der Ex-DDR an arbeitsfreien Tagen und Auftritte in Zelten ohne richtige Stromversorgung organisiert. Viel schlimmer sind die gezielten Querschüsse der Parteikollegen. Lafontaine werde die Wahl verlieren, „und das verdient er auch“, erzählte Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt einer niederländischen Zeitung.
Nicht nur Schmidt, auch der ehemalige SPD-Wirtschaftsminister Karl Schiller und der Ehrenvorsitzende Willy Brandt kritisierten Lafontaines finanzpolitische Ideen öffentlich. Das Verhältnis zum Parteivorsitzenden Vogel ist gespannt. Auch wenn Lafontaine vorgab, keine Lust zu haben, jeder weiß, daß er immer noch auf Vogels Stuhl will. Der engste Mitarbeiter des Kandidaten, Reinhard Klimmt, sagte über Vogels Wahlkampfengagement: „Er bemüht sich sehr.“ Will heißen: Sein Einsatz hält sich in Grenzen.
Und die jüngeren SPD-Matadore aus der sogenannten Enkelriege? Der schleswig-holsteinische Ministerpräsident Björn Engholm und sein niedersächsischer Kollege Gerhard Schröder rühren zwar öffentlich die Werbetrommel für Oskar. Als sie forderten, die Mehrwertsteuer zu erhöhen, sind sie dem Kandidaten jedoch mitten im Wahlkampf in den Rücken gefallen. Auch die Frauen in seiner Partei, selbst Linke wie Heidi Wieczorek-Zeul oder Herta Däubler-Gmelin, haben ihre Schwierigkeiten mit Lafontaine, dem Chauvi. Rechte Sozialdemokraten wollen von ihm sowieso nichts wissen. Denen legt er zuwenig nationales Pathos auf.
Kein Wunder also, daß sich auch die Genossen mit dem Wahlkampf für Lafontaine allein gelassen fühlen. Auf der Betriebsräteversammlung in Bonn klagte einer aus Hessen, er habe es satt, beim Plakatekleben in Thüringen dauernd als „rote Sau“ beschimpft zu werden. Klaus Fliescher, Geschäftsführer eines Unterbezirks in Nordrhein-Westfalen, sagt stellvertretend für viele: „Da kannste hier rummachen wie 'ne Eintänzer inne Fischbratküche, dat bringt nix mehr.“ Mal fehlen die Plakate, mal die Leute zum Kleben.
Sind gerade mal keine Fernsehkameras auf ihn gerichtet, läßt Kanzlerkandidat Oskar Lafontaine durchblicken, daß er ernsthaft nicht mehr mit einem Wahlsieg rechnet. Bonner Journalisten fragten ihn, warum er nach einer Wahlniederlage nicht als Oppositionsführer nach Bonn wolle. Er sei psychisch und physisch zu sehr „gestreßt“ und wolle sich nach dem 2.Dezember „nicht voll ins Geschirr werfen“, antwortete er ehrlich. Als Bundeskanzler müßte er ins Geschirr. Das wird ihm wohl erspart bleiben.
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