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Das letzte „DDR-Buch“

■ Die Wende aus Kindersicht

Was wissen Kinder und Jugendliche aus der BRD beziehungsweise der nun ehemaligen BRD über die Ereignisse des letzten Jahres in der DDR, über die Wende und ihre Auswirkungen auf den Alltag der Menschen „drüben“? Können sie der arg strapazierten Floskel „Wahnsinn“ zustimmen, oder sind ihnen die Geschehnisse zu fremd? Zwanzig Autorinnen und Autoren aus der (ehemaligen) DDR erzählen vom rasanten Lebens- und Wertewandel aus der Sicht derer, die nicht gefragt wurden: der Kinder.

Vor allem geht es um die emotionalen Auswirkungen der Veränderungen: Angefangen bei der massenhaften Ausreise über Ungarn im Sommer 1989, über Erlebnisse angesichts der Maueröffnung, über die Folgen der Orientierungslosigkeit für den Umgang miteinander, den Bruch mit lange eingeübten Verhaltensweisen, das Auftreten von BRDlern in der DDR, bis zum Umgang mit Vertretern des Staatsappartes wie zum Beispiel ehemaligen Stasi-Mitarbeitern. Häufig sind es die Kinder, die für die frühere Tätigkeit der Väter verfolgt werden und leiden müssen. Den Lesern bleibt, wie den Altersgenossen in der DDR, überlassen, über Schuld und Verstrickung nachzudenken.

Das ist ein großes Verdienst dieses Buches: Fertige Antworten werden nicht geliefert, die Anthologie ist vielmehr ein wichtiges Dokument der Situationsbeschreibung, auch der An- und Einsichten der Autorinnen und Autoren.

Die meisten Beiträge wenden sich sehr konkret der privaten Situation zu, soweit sie in diesem Zusammenhang überhaupt privat zu nennen ist. Eine der anrührendsten und bittersten Geschichten ist Ricardo von Hannes Hüttner. Ein Fünfjähriger macht sich in der Nacht der Maueröffnung auf den Weg, weil er seine Mutter im Fernsehen bei den spontanen Jubelfeiern an der Mauer entdeckt hat. Bevor er seine Mutter im allgemeinen Freudentaumel finden kann, kommt er durch Rücksichtslosigkeit, Gleichgültigkeit und das Zusammentreffen unglücklicher Umstände — ums Leben.

Die Geschichten zeigen auch die Hilflosigkeit der Erwachsenen, die den Kindern und Jugendlichen nur bedingt zur Seite stehen können bei ihrer Neuorientierung. Es wird wohl noch lange dauern, bis dieses Buch an Aktualität verloren hat. Susanne Müller-Martin

Margarete Gorschenek/Peter Abraham (Hrsg.): Wahnsinn! Geschichten vom Umbruch in der DDR , Otto Maier Ravensburg 1990 (Ravensburger junge Reihe), 300 Seiten, ab 12 Jahre, 19,80 DM.

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