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■ Die „Rußland“-Hilfe und die deutsche Vergangenheit KOMMENTARE

Keine Frage, den Menschen der Sowjetunion muß großzügig geholfen werden. Der Aufruf trifft nicht nur auf eine starke Hilfsbereitschaft. Die Erfahrungen mit der Polen-Hilfe anfang der achtziger Jahre zeigt auch, wie nachhaltig positiv damit Einstellungen verändert werden können. Aber die Hinweise der Bundesregierung, jetzt müßten wir Gorbatschow helfen, weil er den Deutschen geholfen habe, sind nur die halbe Wahrheit. Vielmehr spielen eigennützige Motive eine bedeutende Rolle. Die Bonner treibt die Sorge vor einer Destabilisierung Europas durch einen Sturz Gorbatschows ebenso um wie die angebliche Gefahr, im nächsten Jahr könnten Millionen Hungerflüchtlinge aus der Sowjetunion Einlaß begehren.

Vor allem die Untertöne in den Reden von Bonner Politikern stimmen unbehaglich. „Die richtigen Freunde findet man in der Not“, läßt Kanzlerberater Teltschick die Sowjets wissen. „Die Städte, die besonders gelitten haben, werden bevorzugt“, sagt Arbeitsminister Blüm. Wer hat denn die Bundesrepublik bisher daran gehindert, sich zu entschuldigen für die 27 Millionen Toten des deutschen Überfalls 1941 auf die Sowjetunion?

Wäre es nicht längst die Pflicht gewesen, Leningrad zu helfen, das Hitler als Symbol der sowjetischen Revolution dem Erdboden gleichmachen wollte und in dem während der Belagerung mehr als 700.000 Menschen verhungerten? Die Not der Sowjetunion ist auch nicht ausschließlich eine Folge des uneffizienten Staatssozialismus, sie ist auch Nachhall der Verwüstungen durch die Deutschen. Den kalten Krieg jetzt als Hinderungsgrund für eine Versöhnung anzuführen, läßt den Unwillen zum Schuldanerkenntnis außen vor.

Man kann nur wünschen, Bonn hat so viel Fingerspitzengefühl, die Bundeswehr außen vor zu lassen und stattdessen die humanitären Organisationen großzügig mit zivilen Schiffen, Flugzeugen und Lastkraftwagen auszurüsten. Nichts wäre schlimmer als der arrogante Gestus eines Militärs, den Sowjets mal zu zeigen, wie man zack-zack so etwas mit deutscher Effizienz bewältigt. Auch wer Not leidet, hat seinen Stolz. Gorbatschows diplomatische Anmerkung, die Sowjetunion benötige keine Bundeswehrtransporte, zielt darauf, welche Wunden aufbrechen könnten, wenn deutsches Feldgrau wieder durch sowjetisches Land rollt.

Einen Neuanfang kann es nicht ohne ein bewußtes Erinnern der Geschichte geben, wenn das Fundament eines neuen Europas solide gefügt sein soll. Die Bundesregierung aber hat bereits bei der Formulierung der Präambel des Einigungsvertrages deutlichgemacht, daß sie nicht gewillt ist, historische Schuld einzugestehen. Bei der „Rußland“- Hilfe ist Gleiches zu befürchten. So fällt uns die Vergangenheit deshalb nur als Zahlenspiel an: Die Kontonummer des Deutschen Roten Kreuzes lautet: 414141. Gerd Nowakowski

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