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Antisemitismus und Antikommunismus

■ Die neue Welle des Judenhasses in Europa geht einher mit dem Verschwinden des Totalitarismus DOKUMENTATION

Der Kopf der Hydra ist nachgewachsen. 45 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs stehen wir wieder vor einer Welle des Antisemitismus. Die Shoah, die Auslöschung von 6 Millionen Juden, — hat sie nichts gelehrt? Die Antwort auf diese einfache Frage ist jedoch kompliziert. Allein schon deshalb, weil man, spricht man vom Antisemitismus, die Dinge immer genau auseinanderhalten muß. Antisemitismus ist nicht gleich Antisemitismus, und nicht jeder führt zu denselben Konsequenzen. Zunächst muß man wirklich sagen, daß die Shoah tatsächlich nichts gelehrt hat, oder wenigstens sehr wenig. Und zwar, weil sie den gewöhnlichen Antisemitismus übersteigt, und weil sich der „normale Antisemit“ mit ihr keineswegs identifiziert. Der beste Beweis dafür ist der Revisionismus. Ich will mich nicht mit einem Idioten wie Faurisson auseinandersetzen, sondern nur darauf hinweisen, daß seine Thesen über die angebliche Inexistenz der Gaskammern in der Tat kein Nazismus sind. Ganz im Gegenteil, sie dienen als Voraussetzung dafür, auch heutzutage Antisemit zu sein, ohne deswegen Nazi sein zu müssen. Der Antisemit muß die Shoah verdrängen. Und die Formen dieser Verdrängung sind so unterschiedlich wie die Formen des Antisemitismus. In Frankreich und ganz generell in Westeuropa leugnet der Antisemit die Existenz der Gaskammern. In Polen und in Mitteleuropa dagegen sagt er: Ja, es stimmt, sie haben die Juden ermordet, aber sie brachten auch unsre Leute um. Mit anderen Worten, entweder wird die Shoah schlichtweg geleugnet, oder sie wird relativiert.

Die neue Welle des Antisemitismus geht ja einher mit dem Verschwinden des Totalitarismus.

Läuft Europa Gefahr, eine Kariaktur dessen zu werden, was es vor dem Zweiten Weltkrieg war?

Am Ende des 20. Jahrhunderts kommt Europa wieder zu sich selbst. Oder besser vielleicht, es läuft Gefahr, eine Karikatur dessen zu werden, was es vor dem Zweiten Weltkrieg war. Eine Karikatur deshalb, weil die Juden kein wirkliches Problem mehr darstellen. Der Judenhaß ist heute mehr denn je völlig abstrakt. Und aus dieser Sicht kein Problem der Juden, sondern eines für das Gewissen Europas. An diesem Punkt gilt es, genau zu unterscheiden. Vor dem Krieg war die Beziehung zwischen Juden und Nicht-Juden durch vielfältige, aber in sich unterschiedliche Probleme charakterisiert, die in ihrer Gesamtheit zu einem hochexplosiven Gemisch wurden. Zum einen gab es da die Frage des Überlebens für die Juden in Osteuropa. Und das war ein ganz reales Problem. Die Juden bildeten eine richtige Nation, mit einer Sprache, dem Jiddisch, einer Kultur, politischen Parteien, Gewerkschaften etc. Auf der anderen Seite wurde ihnen jedoch das Recht bestritten, dort zu bleiben, wo sie lebten, Arbeitsplätze anzunehmen und mit vollen Rechten am öffentlichen Leben teilzunehmen. Der andere Antisemitismus kämpfte nicht so sehr gegen den wirklichen Juden, als vielmehr gegen ein immaginäres Bild desselben. Das beste Beispiel für diese Form des Antisemitismus ist die Affaire Dreyfus. Nachdem der Nazismus das osteuropäische Judentum vernichtet hat, ist dieser Antisemitismus der einzig mögliche. Heute wie damals haßt der Antisemit einen vollkommen immaginären Juden. Hier stellt sich aber nun eine grundlegende Frage. Warum ersteht der Antisemitismus ausgerechnet jetzt wieder? Nachdem die Revolutionen von 1989 dem karikaturenhaften Bild vom Kommunisten als dem Bösen, dem Verderber der Seelen, dem Fremden, der sich heimlich in unsere Gesellschaft einschleicht, jeden Sinn geraubt haben, taucht als Figur, die das absolute, metaphysische Böse verkörpert, wieder das traditionelle Bild vom Juden auf.

Die post-moderne Rückkehr des Antisemitismus zu den archaiischen Wurzeln des Judenhasses verdankt sich mehreren Faktoren. Zunächst ist festzustellen, daß der moderne Antisemitismus eine Antwort auf die in der Moderne selbst liegenden „Gefahren“ war. D. h. der Antisemit erkannte im Juden den Kosmopoliten, den Händler. Also denjenigen, der in der Sphäre des Abstrakten und Flüchtigen lebt im Gegensatz zum „Konkreten“ und „Materialen“. Unter diesem Gesichtspunkt waren auch jene Zionisten Antisemiten, die das jüdische Volk durch die Rückkehr zur Landwirtschaft heilen wollten. Und dann zersetzte der assimilierte oder sich assimilierende Jude angeblich die konkrete Welt. Noch heute hört man in den Reden Le Pens den Widerhall des Hasses gegen die Abstraktheit, die die Moderne mit sich bringt. Dasselbe klingt auch in einigen Argumentationen der Grünen nach. Aber im allgemeinen kann man sagen, daß die Moderne sich heute überholt hat. Sieht man genau hin, dann sind auch für den polnischen oder ungarischen Antisemiten die Juden unwichtig. Auch hier ist der Jude eine mythische, eine eingebildete und rein symbolische Figur. In Polen werden der Premierminister Mazowiecki und der langjährige Dissident und Arbeitsminister Kuron als Juden verdächtigt, obwohl sie überhaupt keine sind. In Polen und Ungarn erfüllt der Antisemitismus eine ganz konkrete Funktion: Er stellt das Bindemittel für die im Entstehen begriffene Rechte dar, der das Feindbild abhanden gekommen ist. Das nimmt am Ende die doppeldeutigen Züge des Juden und des Kommunisten an. So unterstellt man Exponenten des radikalsten Antikommunismus wie Michnik, Geremek, Haraszti und Kis, sie seien Rote. Während auf der anderen Seite die widerlichsten Kollaborateure der alten Regime als heldenhafte Antikommunisten durchgehen, wenn sie nur extreme Nationalisten sind. Der Widerspruch ist nur ein scheinbarer. In Wirklichkeit erleben wir die Wiedergeburt der alten Teilung, die bis zum Beginn der Moderne den Unterschied zwischen den beiden Kulturen in Europa markierte: die eine fremdenfeindlich, populistisch, nationalistisch, autoritär und klerikal. Und natürlich antisemitisch; laizistisch und radikal die andere.

Der Antisemitismus ist ein Problem des europäischen Gewissens

Der Nationalismus in Europa ist genetisch fremdenfeindlich. Und dies nicht so sehr deshalb, weil er sich gegen den besetzenden oder angrenzenden Ausländer richtet, sondern gegen die andere Ethnie, die mit ihm dieselben Städte und Dörfer bewohnt. Russland ist das einzige Land, in dem die Juden massenhaft den Holocaust überlebt haben. Und hier nimmt der Antisemitismus neben seinen ideologischen und symbolischen Formen auch die Gestalt einer realen Bedrohung an. Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus kehren gewisse Kreise zur alten Ideologie der Autokratie zurück; zur Idee des russischen Sonderwegs gegen den „korrupten, gottlosen und schachernden“ Westen. Für diese Doktrin hat Rußland eine messianische Aufgabe zu erfüllen: Rußland muß das Dritte Rom werden. Es ist dies ein absoluter Glaube. Der Gegner dieser Mission hat das Schlimmste zu gewärtigen. In Rußland leben die Juden wirklich in größter Gefahr. Das mindeste, was wir tun können, um die Krankheit des Antisemitismus zu bekämpfen, ist, das Problem genau herauszuarbeiten und es nicht mit anderen Fragen zu vermischen. Leider gelingt das nicht immer. Daher ist die Konfusion groß. Eines aber ist gewiß: Der Antisemitismus ist ein Problem des europäischen Gewissens und der vielfältigen Formen der europäischen Kultur. Wlodek Goldkorn

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