Des Meisters Wort neu vermessen

Foto: Anke Berger

Viel Klassik beherrscht zur Zeit die Berliner Bühnen. Wer's nur von außen registriert, mag denken, hier erfülle sich nun endlich die verheißungsvolle Forderung eines unlängst geschaßten Staatstheater-Intendanten nach einem deutschen Nationaltheater. Doch wer mit biederem Ansinnen in die Musentempel schreitet, wird schwer enttäuscht werden: der Kampf mit der Materie tobt jenseits gutbürgerlicher Philologie. Ob Schiller oder Goethe - das klassische Pathos ward zynisch aufgebrochen, zerrupft, verhackt, mit fremden Texten aufgemöbelt zum glänzenden Intellektuellen- Interieur der 90er Jahre zurechtgedacht. Dem musealen Staubtuch ist couragiert-collagiert ein Reibeisen untergeschoben; Kirchner, Castorf, Lang - sie alle hobeln emsig diese Späne.

Goethes Tasso kommt, was intellektuelle Aufmüpfigkeit betrifft, im Bundestheater besondere Bedeutung zu: Peter Steins Bremer, Claus Peymanns Stuttgarter Fassung kündeten einst vom bilderstürmenden Aufbegehren, als Theater sich noch gesellschaftskritisch gebärden wollte. Die Kontroversen des Tasso mit dem Establishment, das ihn unterhält und das er im Gegenzug mit geistigem Produkt bereichert, machten Skandal. An der konservativen Gesinnung schlug der Funke an, Theaterbrände gab es dennoch nicht. Heute scheinen die Großen den Griff in die kärglich hinterlassene Asche zu scheuen: vielleicht weil das Ergebnis allzu resignativ auszufallen hätte ...

Dier Berliner Bühne, die zur Zeit im Theater Unterm Dach gastiert, hat mutig zugegriffen. Ihr lamentierender Dichterfürst ist tatsächlich kohlrabenschwarz bekleidet und windet sich, wenn's sein muß, gar rückwärts durchs gänzlich rot verkleidete Erden-Paradies des Lustschloß' Belriguardo. Um ihn her nur pastelle Typen. Sie alle lamentieren auch nicht wenig, betreiben hinlänglich Konversation, sondern weit ausholende Wortkaskaden ab und verharren in einmal eingenommenen Stellungen, als wäre jede Bewegung eine ungewisse Neuerung. Ein bißchen lähmend wirkt das schon.

Doch »Tasso« ist ein Stück des Wortes, wer auf die spärliche Handlung pocht, hat bald verloren. Der Regisseur Thomas Bartholomäus und seine Schauspieler haben diesen Grundcharakter ernst genommen und eine Expedition durch die Variationen von Wortarien, -duetten und -terzetten angetreten. Mit artistischem Schwung wird hier ganz unerwartet skandiert, gerattert, geflüstert oder geschrien. Tasso (Olaf Hilliger) vermag sich in die Trance zu sprechen, der Lebemann Antonio (Jörg Zuch) mit jedem Satz süß zu flirten oder zynisch abzuwehren. Höhepunkt ist da erreicht, wo beide in der Auseinandersetzung nicht, wie Goethe wohl dachte, den Degen kreuzen, sondern allein durchs Wort sich fetzen. Hinwiederum darf Tasso seine angebetete Prinzessin (Marlene Kliefert) öfter halten, öfter drücken, als im Original dies vorgesehen. Führt in der Vorlage die einzige Berührung zwischen beiden bekanntlich zur Ohnmacht der Prinzessin, so darf hier Tasso hinter ihr her kriechen und sie fast vergewaltigen.

Heraus kommt am Ende eine für Manche trockene, gleichwohl interessante Variation des altbekannten Stücks. Ein wenig elitär, ein bißchen zu stilistisch. Eine Art Grundlagenforschung - nicht soziologisch sich aufbäumend, sondern kühl den Raum der Intellektualität und des übriggebliebenen Gefühls vermessend. Wenn man da nicht stehenbleibt, war's ein guter Anfang für das Ensemble der Berliner Bühne. baal

Die Berliner Bühne spielt »Torquato Tasso« von Samstag bis Montag um 20Uhr im Theater Unterm Dach.