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Wo ist die Omelette?

Panait Istrati, ein „tölpelhafter Vorläufer“ der Renegaten  ■ Von Karl Kröhnke

Aus dem fernen Osten ist eine Figurengruppe unter unsere Kulturgüter (und in die Souvenirläden) geraten: drei Affen hocken nebeneinander, einer hält sich die Augen zu, einer die Ohren, der dritte verbietet sich den Mund. Mir scheint, man könnte kein trefflicheres Bild ersinnen für jene Compagnons de route des Kommunismus, die in den zwanziger und dreißiger Jahren als Revolutionstouristen in die Sowjetunion kamen und, zurückgekehrt, dem Westen von der stalinistischen Realität nur Gutes zu künden wußten. Denn alle drei Varianten finden sich unter den Sympathisierenden: willentlich Blinde; solche, die nicht hören wollten; solche, die Wichtiges erfahren und — verschwiegen haben.

Auch im Zusammenhang mit Panait Istratis russischer Reise 1927/28 und seinem so wohltuend andersgearteten Bericht (Vers l'autre flamme, dt. Auf falscher Bahn, 1930) begegnen wir der gewollten Ignoranz jener drei Figuren: Hatte man nicht Romain Rolland zunächst die emphatischen Zeilen nach Moskau zurückgeschickt: „Wir müssen mit Ihren Augen sehen.“ (31.Oktober 1927) ...und ihn dann doch unter Druck gesetzt, sich — wie der Affen dritter — den Mund zuzuhalten: „Diese Seiten [Istratis manifestartigen Briefe an Gerson von der GPU] sind geheiligt. [...] Aber publizieren Sie sie nicht!“ (29.Mai 1929) (Istrati warf ihm später vor: „Indem Sie ihnen [den Stalinisten] mit Ihrem Schweigen zu Hilfe kommen, ...decken Sie sie mit Ihrer Autorität.“ Er schwieg weiter, obwohl Istrati damals infam denuziert wurde und er Rolland zu seiner Ehrenrettung aufrief. Rollands Entscheidung, ihm auf einen offenen Brief mit einem privaten Schreiben zu antworten, war dann ein demonstratives Festhalten am Schweigen.) Manès Sperber nennt ihn denn auch im zweiten Band seiner Memoiren „einen der moralischen Initiatoren jener Verschwörung des Schweigens, die die Sowjetunion vor jeder Kritik schützen sollte“. Nicht sehen... Nichts sagen...

Und nicht hören: Die unlängst in Frankfurt gestorbene Publizistin Margarete Buber-Neumann berichtet in ihrem (im Titel auf Vers l'autre flamme anspielenden) Erinnerungsbuch Die erlosche Flamme von einem Treffen im privaten Kreis zu Paris, wo sie, damals noch Kommunistin, Istrati kennenlernte, der da von seinen gerade ganz frischen Eindrücken aus Sowjetrußland sprach. „Etwas Seltsames hatte sich mit mir ereignet. Ein Teil meines Ich wußte, daß hier die reine Wahrheit gesprochen wurde, aber der moralische Selbsterhaltungstrieb des politisch Gläubigen zwang mich dazu, ihn zum Lügner zu stempeln.“

Was brachte Istrati dazu, so früh unter alle die euphoprisch lobhudelnden Rußlandreportagen jener Jahre ein wütend schimpfendes Buch zu setzen, das seinen Autor rasend vor Enttäuschung zeigt — lange, lange bevor die drei großen Moskauer Schauprozesse, die Erfahrungen des Spanischen Bürgerkriegs und anderes mehr etliche prominente fellow travellers zur Abkehr vom Gott, der keiner war brachte?

In einigen populären Darstellungen wird Istratis zeitiger Bruch damit erklärt, daß er — im zweiten Teil der Reise — unabhängig von organisierten Gruppen fuhr (Hans Magnus Enzensberger hat 1972 im 'Kursbuch 30‘ die getrübte Wahrnehmung der UdSSR-Pilger allzu monokausal auf das Delegacija-System zurückgeführt, in das sie eingebunden waren); weiter damit, daß er mehrere Sprachen der UdSSR sprach (was gewiß überschätzt wird); und immer wieder damit, daß er „von unten“ kam und im prätendierten Arbeiterstaat den Blick auf „das Los des Arbeiters, der nichts als Arbeiter ist“, konzentrierte. Diese Erklärungen sind zu einem guten Teil richtig und wichtig, urteilen aber doch vorschnell. Sehen wir genauer hin.

Zunächst muß gesagt werden, daß Istratis Desillusionierung mehrere Stufen durchlief und daß er — selbst noch als er an der UdSSR gründlich resigniert war — lange zögerte, im Westen kritisch über sie zu schreiben. Ganz zu Anfang war er einer „auf der Suche nach dem Glauben“. Er selber sagt, daß er sich leicht begeistern ließ („das liegt schon so in meiner Natur“) und nahe daran war, dithyrambische Artikel zu schreiben. Ja, er hat wohl auch das eine oder andere rasche Lob in den Druck gegeben oder drängenden Reportern in die Notizblöcke diktiert. Das haben ihm die Kommunisten nachher natürlich vorgehalten: die 'Literaturnaja gaseta‘ prangerte sein „Doppelantlitz“ an; der KPD-Schriftsteller (und vormalige Junker) Ludwig Renn berichtete 1932, Arbeiterinnen einer Zuckerbäckerei in Tiflis hätten ihr Mißtrauen gegen ihn erst überwunden, nachdem er sich von Istrati distanziert hatte: „Das ist gut. Istrati hat uns betrogen!“ (Rußlandfahrten, Berlin 1932) Und Ilja Ehrenburg gibt in der für ihn charateristischen zynischen Manier ein Aperçu von Eugène Merle wieder: „Istrati erzählte mir, er hätte sich in Moskau herrliche Zähne einsetzen lassen. Und mit diesen sowjetischen Zähnen lächelt er jetzt Poincaré und Bratianu an...“ (Menschen. Jahre. Leben. Dt. 1962)

[Man muß freilich wissen, daß der Vorwurf, die Abtrünnigen hätten „bei uns“ anders gesprochen als nach ihrer Rückkehr, stereotyp vorgebracht wurde und im Arzneischrank der Stalinisten das „klassische“ Palliativ gegen schmerzhafte Kritik war. Namentlich André Gide wurde solcherart als Falschmünzer beschimpft: „Denken Sie, wie sich das Schwein, der Gide, benommen hat. Erst läßt er es sich als Gast bei uns wohlergehen, und dann verleumdet er uns...“1 Auch der Romancier Lion Feuchtwanger, der 1937 einen bestellten Anti-Gide: Moskau 1937 verfaßt hat, repetiert, „daß Gide innerhalb der Union nur zu loben gewußt hatte und Einwände erst außerhalb der Grenzen äußerte“. Es bezeugen aber sämtliche UdSSR-Reportagen jener Jahre das unaufhörliche Drängeln der Gastgeber nach Komplimenten — bei gleichzeitiger Ahnungslosigkeit von den im Westen erreichten Standards: ein Verhalten, das es dem höflichen Gast denkbar schwer machte, sich differenziert zu äußern. Selbst Feuchtwanger räumt ein: „Manchmal auch erschwerte es mir der naive Stolz und der Eifer der Sowjetleute, das rechte, abgewogene Urteil zu finden.“ Sie „bedrängen [[den Reisenden]] sogleich mit Fragen: wie gefällt Ihnen das, und was sagen Sie zu dem?“ Gerade Gide hat diese Problematik in Retour de l'U.R.S.S. eingehend behandelt — am Beispiel seines Versuchs, aus Gori ein nicht byzantinisches Telegramm an Stalin zu senden. Konsequent distanziert er sich denn auch von allen unter seinem Namen in der UdSSR publizierten Statements — ählich wie sich Istrati gegen die in 'Clarté‘ [[12/1927-1/1928]] gedruckte Version seines Artikels Autour d'un Congrès verwahrte und überhaupt das Zustandekommen seiner positiven Äußerungen aufschlußreich erläuterte.2]

Was nun den Prozeß der allmählichen Lösung Istratis vom Glauben an die Sowjetunion angeht, so scheint ihm mehr noch als seine proletarische Herkunft seine Unkenntnis politischer Theorie und ideologischer Konstrukte weitergeholfen zu haben. Die dialektisch Gebildeten unter den Intellektuellen ließen sich von megalomanischen Industrieprojekten und dergleichen blenden — Versprechungen, die oft genug (wie der Russe sagt) „wilami na wodje“ — mit der Gabel aufs Wasser — geschrieben waren. Von Istrati erzählt Victor Serge in seinen Mémoires d'un Revolutionnaire: „Er war unfähig zu theoretischen Erörterungen und infolgedessen gegen sophistische Fallstricke gefeit. Man sagte zu ihm in meiner Gegenwart: ,Panait, man kann keine Omeletten machen, ohne Eier zu zerschlagen. Unsere Revolution... usw.‘ Er rief: ,Gut, ich sehe die zerschlagenen Eier. Wo ist eure Omelette?‘“

Und wenn ihm auch die Versorgung der Proletarier unter der „Diktatur des Proletarits“ am Herzen lag, empörten ihn doch weniger die materiellen Mängel als die moralische Verkommenheit des Regimes und seiner Nutznießer3: Idealist, der er zeitlebens war, hatte er geglaubt, am „Bau einer neuen, vom Materialismus befreiten Welt“ mitwirken zu können, und war nun konfrontiert mit der egoistischen Gier der Bürokraten und Neureichen, Privilegien zu erlangen. Besondes schockierte ihn die — in dieser Schärfe tatsächlich damals und dort historisch neuartige — Koppelung des nackten Überlebens ans politische Wohlverhalten. Wer nicht „auf Linie“ war oder wer von niederträchtigen Neidern als unzuverlässig denunziert wurde, konnte seine Wohnung, seine Arbeit, sein täglich Brot verlieren. Das Wirken der „roten“ Gewerkschaften und insbesondere der Jakt (Wohnungsgenossenschaften) als willfährige Instrumente einzelner, die aus selbstsüchtigen Motiven andere ins Elend stürzten, scheint ihn noch vor seiner Rückkehr aus Transkaukasien nach Moskau zutiefst abgestoßen und aufgewühlt zu haben. Am Ende seiner Reise sah er sich wieder als einen „Besiegten“, teilte der GPU mit, er könne eine nur politische Darstellung der sowjetischen Verhältnisse nicht verantworten, doch sicherte er ihr immerhin Schweigen zu.

Warum traf er diese eigenartige Vereinbarung mit der politischen Polizei? Weil er vorläufig noch in der Vorstellung eines tertium non datur gefangen war und — wie so viele andere Zweifelnde — glaubte, es handelte sich um „interne“ Kritik unter Revolutionären; vorrangig bliebe die gemeinsame Ablehnung des Kapitalismus, der Reaktionäre und „Weißen“. Anfang 1928 war es „das Schauspiel des Terrors in Griechenland“, welches ihn „die wenigen Übelstände in der Sowjetunion“, die er damals kannte, tief in den Untergrund seines Bewußtseins zurückdrängen ließ. Und: „Freue dich nicht zu früh, weißes Ungeziefer“, bricht er noch in Vers l'autre flamme aus: „wir verstehen einander nicht, wir Kampfgenossen. Aber davon seid überzeugt, gegen euch werden wir immer in einer Front zusammenstehen...“ Besonders auch der offene Briefe an Lucie Delarue-Mardrus (in 'Europe‘ vom 15.Oktober 1930) zeigt seine Bestreben,seine Kritik des Kommunismus von der der Bourgeoisie abzusetzen.

Der Schlüssel zum Verständnis, wieso Istrati sich an das Agreement nicht mehr gebunden fühlte, ist zweifellos der Terror gegen die ihm befreundete Familie Russakow — die Angehörigen des Schriftstellers und Revolutionärs Victor Serge. Darin konzentierten sich alle Übel, die ihm schon länger aufgestoßen waren: insbesondere die politische Denunziation als Mittel, sich den Posten oder die Wohnung eines anderen anzueignen — gnadenlos, auch wenn das Opfer dabei seiner Brotkanten verlustig geht! Außerordentlich empörend waren für ihn auch Machenschaften wie eine Arbeiterabstimung in der Samoilowa-Fabrik, deren Ergebnis die 'Leningradskaja Prawda‘ schon vorher „wußte“. Alles in allem erschien ihm die „Affäre Russakow“ mehr als eine Affäre: sie repräsentierte ihm die „U.S.R.R. d'aujourd'hui“.

Was ihn letztlich bewog, sein Schweigen zu beenden und sogar den Bruch mit Rolland (welcher ihn massiv unter Druck setzte) in Kauf zu nehmen, war die Kassation des zunächst erfolgten Freispruchs der Russakows von den erlogenen Vergehen durch das Leningrader Revolutionsgericht im Mai 1929. Schmerzlich erkannte Istrati, daß das Regime einzelnen, integren Menschen keinen Weg ließ, zu ihrem Recht zu kommen.

An Zeugnissen der Freundschaft und Dankbarkeit seitens der Russakow-Familie mangelt es nicht. Victor Serge bekennt in seinen Memoiren: „Daß ich noch lebe, habe ich zum Teil ihm zu verdanken.“ Und sein Gedicht Mort de Panait Istrati (1935) zeugt von Verständnis und Sympathie für Panait und seine Welt. Ein weiteres Dokument wird hier erstmals gedruckt. Es handelt sich um eine Zeichnung, die Serges Sohn, Wladimir Kibaltschitsch, angefertigt hat. „Vlady“, der mit seinem Vater ins mexikanische Exil ging, lebt dort in der Hauptstadt und in Cuernavaca4 als beachteter Maler und „Muralist“: Als ich ihn 1988 traf, war er damit befaßt, für die Sandinisten im Palacio Nacional von Managua Wandmalereien anzubringen, und kämpfte in ständigem Kontakt mit der sowjetischen Botschaft für die Rehabilitierung seines Vaters im Zeichen von Glasnost. Schon mit sieben Jahren (er ist 1920 in Petrograd geboren) zeigte er sich bei der (ersten) Verhaftung Victor Serges durch die Kommunisten tapfer: „Papa, ich weine nicht aus Angst, sondern aus Zorn.“ (Serge: Beruf: Revolutionär) So ist es durchaus glaubhaft, wenn er erzählt, er habe Istratis Aufenthalt schon sehr bewußt miterlebt (Vlady lebte ja damals in der Wohnung Jeliabow-Gasse No.19, wo die „Affaire Russakow“ mit unwürdigen Provokationen gegen seine Familie begann) und habe Istrati während all der Jahre seitdem immer wieder aus dem Gedächtnis gezeichnet. Die vorliegende Variante ist die letzte Überarbeitung. Sie läßt den Betrachter freilich sofort auch an die Schilderung Panaits durch die Gattin Nikos Kazantzakis' denken, eine Beschreibung, die auch Vlady, wie er mir erzählte, kennt:

„Er trug hohe, kaffeebraune Gamaschen, Reithosen, ein enganliegendes, schlecht geschnittenes Jackett und ging gebeugt unter der Last seines alten Fotoapparates. Seine riesigen Taschen waren vollgestopft mit allem möglichen: mehrere Füller und Taschenmesser, Feile, Nagelschere, Zigaretten, Zitronen, rote Paprika, in die er bereits gebissen hatte, ein Fläschchen mit Olivenöl, Glyzerin und sein unerläßliches und unverzichtbares Schächtelchen mit zur Hälfte gelutschten Karamelbonbons...“

Bleibt noch zu sagen, daß Istratis Buch Auf falscher Bahn. Sechzehn Monate in Sowjetrußland nach 60 Jahren zum ersten Mal wieder auf Deutsch vorliegt — in der von Heinrich Stiehler betreuten Werkausgabe der Büchergilde Gutenberg — und nach wie vor von solcher Kraft und Direktheit ist, daß es eine aufregende Lektüre garantiert.

Es war vermutlich seine Radikalität, die zweimal die Rezeption des Werks durch seine Adressaten verhindert hat: 1930 und Anfang der siebziger Jahre, als es für die Neue Linke ein Gewinn gewesen wäre, es zu entdecken. Damals hat Hans Magnus Enzensbeger es 1972 im 'Kursbuch‘ als „tölpelhafte Vorläuferin“ kritischer UdSSR-Analysen abgetan — übrigens ohne es gelesen zu haben (er zitiert es ausschließlich nach der Sekundärliteratur). Istrati hat solche Wirkungslosigkeit wohl geahnt: „Die Revolution ist so hoch in den Himmel gehoben worden, daß ganz andere Mittel dazu gehören, als die paar Käsblätter der Opposition, wenn man sie wieder in menschliche Reichweite herunterholen und den Beweis erbringen will, daß sie heute nur ein Mythos ist...“

Zwar endet das Buch mit einer „Schlußfolgerung für Kämpfer“: „Lassen wir eine neue Flamme lodern!“ Aber die Perspektive bleibt nebulös — zumal der Schriftsteller an einer Stelle ausdrücklich sagt: „Auch die Opposition soll von mir wissen: wenn sie eine Neuauflage dieses Bolschewismus plant, so wird sie in mir einen unversöhnlichen Feind finden.“ Wir sehen: Panait Istrati hatte 1930 eine Position erreicht, zu der sich erst sechs Jahrzehnte später Linksintellektuelle in größerer Zahl durchringen können: Mut, mit der Wahrheit zu leben und ohne Patentrezepte.

Panait Istrati: „Auf falscher Bahn. Sechzehn Monate in Sowjetrußland“, Büchergilde Gutenberg.

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