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»Geheul für Sade«

■ Der Kunstverein Gianozzo zeigt Guy Debords 1952 gedrehten Film in deutscher Fassung

Paris in den fünfziger Jahren; in Saint-Germain des Prés lassen sich altgewordene Surrealisten erneut auf Kaffeehausstühlen nieder und werden von jungen Künstlern bestürmt, Existentialisten setzen sich dazu, umringt von Trotzkisten, Anarchisten und amerikanischen Soldaten, die immer auf der Suche nach etwas Marihuana sind. Im Café Moineau aber trifft sich eine Gruppe Heranwachsender, die sich schon rein äußerlich von den in die Jahre gekommenen Autoritäten zu unterscheiden weiß. Sie tragen zerlumpte Kleidung, schreiben Parolen auf die Hosen, manche färben sich die Haare. Sie fallen durch rüdes Benehmen auf, pöbeln Passanten an und torkeln betrunken durch die Straßen. Sie leben einen Existentialismus, der dem Kaffeehausclan um Sartre und Co. Angst macht; wollen den Eiffelturm in die Luft sprengen, werden nach Einbrüchen verhaftet. Am 9.April 1950 besteigt einer von ihnen in Dominikanerkluft die Kanzel in Notre Dame und verkündet während der Ostermesse Gottes Tod. Ihr Credo dagegen: »Alle Mittel sind recht, um sich zu vergessen: Selbstmord, Todesschmerzen, Drogen, Alkoholismus, Wahnsinn.« Und: »Wie auch immer, lebend werden wir hier nicht herauskommen.«

Aus einem Kern dieser Gruppe entsteht die »Lettriste Internationale«, die später zur Keimzelle der »Situationiste Internationale« (SI) wird, einem weiteren Abrißunternehmen der Moderne, die sich gegen die etablierte, später gegen jede Kunst wendet. Statt dessen will die SI unter Führung ihres Godhead Guy Debord »Situationen« in den Alltag hineintragen, Löcher in die entfremdete Raumzeit einer Gesellschaft des »Spektakels« sprengen. Obschon die SI weniger durch solche »Situationen« von sich reden gemacht hat — Roberto Ohrt, Verfasser des bei der Edition Nautilus erschienenen Phantom Avantgarde identifiziert Debords Streben als ständige Erinnerung der Zeit von »Chez Moineau«, für immer verloren in der Vergangenheit — und zu Anfang der sechziger Jahre »Fluxus« und »Happening« der SI das Terrain streitig machten, lassen sich Spuren ihres Einflusses auch heute noch ausmachen: In England bezogen sich die Amateurterroristen der »Angry Brigade« und »King Mob« ebenso auf die SI wie Malcolm McLaren, PR-thinktank der »Sex Pistols«. Greil Marcus, Autor von Lipstick traces. A secret history of the twentieth century, macht gar das letzte Konzert der »Pistols« zum Aufhänger einer Exkursion durch eine Geschichte des Verworfenen, des Marginalen, des Scheiterns — immer im Zeichen der SI. Auch Tom Vague, Herausgeber eines gleichnamigen Magazins, begreift sich als Nachfolger der SI, veröffentlichte unter anderem einen Beitrag, der die Kritik am »Spektakel« unter dem Gesichtspunkt von Cyberpunk und Videodrome erneut akzentuierte. Vague gehört zu den Organisatoren des »Art Strike 1990-1993«. Jeder Künstler solle in dieser Zeit aufhören, »Kunst« zu produzieren. Solange die Gesellschaft nicht frei sei, wäre »Kunst« nur eine weitere »Ware«, ein weiteres Element des »Spektakels«, das die Massen in Unterdrückung und Entfremdung halte. Und schließlich wurde in England nach einer Wiederaufführung von Guy Debords Hurlements en favour de Sade genau dieser Film gestohlen — ein kleines Wunder also, daß er in Berlin gezeigt wird, insbesondere, da Debord jegliche Vorführung seiner Filme verboten hat.

Die SI betrachtete jede Kunstgattung als hinfällig, Literatur, Malerei, Film, Architektur..., alles war nur Material für eine »Anwendung« in der »Situation«. Wo die »Lettriste Internationale« Sprache zertrümmerte, ging SI daran, ebenso die Malerei und den Film zu zertrümmern. (Ein Projekt, das Wirklichkeit zu werden drohte, die Errichtung einer ganzen Stadt nach Vorstellungen und Maßgabe der SI, konnte dann diese doch zum Scheitern bringen, indem sie darauf bestand, Sprengstoff in die Fundamente zu integrieren, damit sie die Stadt jederzeit vernichten könnten.) Insofern ist der am Sonntag und Montag gezeigte Streifen Debords Geheul für Sade in keinster Weise innovativ für das Filmschaffen gewesen — aber war durchaus imstande, »Situationen« zu erzwingen. Als der Film am 30. Juni 1952 im »Musée de l'Homme« uraufgeführt wurde, brach der Vorführer nach 20 Minuten die Vorstellung ab, das Publikum tobte und randalierte. 1957 machte das renommierte Londoner ICA Antiwerbung für Geheul..., als handele es sich um einen der übelsten Pornostreifen. Und eine Vorführung von 1960, wieder im ICA, beschreibt der Historiker Guy Atkins so: »Als das Licht anging, erhob sich sofort ein protestierendes Gemurmel. Ein Mann drohte, er werde aus dem ICA austreten, wenn man ihm nicht das Geld für sein Ticket zurückerstatten würde. Ein anderer beschwerte sich, daß er und seine Frau den weiten Weg von Wimbledon gekommen wären, sogar einen Babysitter bezahlt hätten, da keiner von ihnen den Film verpassen wollte. Diese Proteste waren so seltsam, als wäre Debord selbst dabei gewesen, hätte in seiner Rolle als Mephistopheles diese normalen englischen Bürger hypnotisiert, Narren aus sich selbst zu machen. (...) Der Lärm aus dem Vorführraum war so laut, daß er die Schlange erreichte, die für die nächste Vorstellung anstand. Die, die den Film gesehen hatten, kamen aus dem Auditorium und versuchten ihre wartenden Freunde zu überzeugen, nach Hause zu gehen, anstatt Zeit und Geld zu verlieren. Aber die Atmosphäre war so von Erregung geladen, daß die wohlmeinenden Ratschläge den gegenteiligen Effekt hatten. Nun erst recht war jedermann neugierig, diesen Film zu sehen, denn niemand konnte sich vorstellen, daß...«

Das soll hier auch nicht verraten werden. Die vom Verlag Nautilus organisierten Vorführungen in Berlin werden von Hanna Mittelstädt, Lutz Schulenburg und Roberto Ohrt begleitet, gedacht ist an Diskussionen über den Hintergrund der SI sowie mögliche Perspektiven für Kunst und Gesellschaft. Dies mag vielversprechend sein, denn auch wenn die SI nach Meinung von Ohrt zumindest kunsthistorisch ein gescheitertes Projekt war, so sind einige der von ihr gedachten Ansätze noch immer einige Gedanken wert. Debords Begriff der »Gesellschaft des Spektakels« erinnert an die Simulationstheorien von Baudrillard (der übrigens unter den Hörern Debordscher Ergüsse war), nur sind sie politisch schärfer ausformuliert. In diesen Zeiten, da die Geschichte kaum nachkommt, historische Ereignisse auszuspeien, erhält die »Gesellschaft des Spektakels« geradezu aktuelle Bedeutung. Dann sei daran erinnert, daß Künstler wie La Monte Young in ihren Überlegungen zur Anwendung von interaktiven Computerenvironments, Virtual Reality, wieder auf die »Situation« zurückkommen und auch den Begriff der »Avantgarde« erneut militärisch verstehen. Und abschließend sei noch bemerkt, ...Mai 1968, Paris..., das war die große Zeit der SI. R. Stoert

Geheul für Sade von Guy Debord in deutscher Fassung und voller Länge am So, 16.12., um 20 Uhr im Kunstverein Gianozzo, Suarezstr. 28. Anschließend werden Roberto Ohrt sowie Hanna Mittelstädt, Übersetzerin der Filmskripte Debors, und Lutz Schulenburg von der Edition Nautilus, Hamburg, für ein Gespräch zur Verfügung stehen. Ebenfalls am Mo, 17.12., um 20 Uhr in der Buchhandlung Schwarze Risse, Mehringhof, Gneisenaustr. 2. Dort wird eine gekürzte Fassung mit anschließender Diskussion gezeigt.

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