Ein Schreckgespenst namens Obdachlosigkeit

■ Laut Sozialverwaltung gibt es in Berlin »nur« rund 7.000 Übernachtungsfälle/ Höhere Zahlen wie die der Experten vom Diakonischen Werk seien »überzeichnetes Schreckgespenst«/ Mietpreisbindung Gegenstand der Koalitionsverhandlungen

Berlin. Alles halb so schlimm mit der Obdachlosigkeit in Berlin: Zur Zeit, erkärte gestern der Sprecher der Sozialverwaltung, Thomas-Peter Gallon, verzeichneten die Bezirke etwa 7.000 Übernachtungsfälle. Damit seien diejenigen gemeint, die kein eigenes Dach über dem Kopf haben, um Hilfe nachsuchen und deshalb untergebracht werden — nicht jedoch die Personen, »die abends kein Bett finden und draußen schlafen«. Über deren Zahl gäbe es keine genauen Erkenntnisse und dies würde auch nicht angestrebt, schließlich »leben wir nicht in einem Überwachungsstaat.« Erfahrungsberichte von Sozialarbeitern ließen jedoch darauf schließen, daß auch diese Menschen die Adressen kennen, wo ihnen zur Not, auch nachts, geholfen werden könne — »so was spricht sich rum«.

Mit dieser Stellungnahme zur Situation der Obdachlosen in der Stadt reagierte die Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales auf die alarmierende Meldung des Diakonischen Werks von vor knapp zwei Wochen, wonach derzeit in Berlin rund 16.000 bis 20.000 obdachlose Männer und Frauen leben. Dies jedoch sei nicht mehr als ein »überzeichnetes Schreckgespenst«, empörte sich der Staatssekretär für Soziales, Armin Tschoepe. Bohre man nämlich einmal nach, erfahre man, daß die zitierten Statistiken Strafgefangene, BewohnerInnen von Frauenhäusern und psychiatrischen Anstalten, Jugendliche in Wohngemeinschaftsprojekten sowie Aussiedler und Asylbewerber in Übergangswohnheimen dazuzählten. Allein 10.000 AsylbewerberInnen bringe Berlin derzeit unter — die könne man wohl doch nicht alle obdachlos nennen. Der sozialpolitische Sprecher der AL-Fraktion, Michael Haberkorn, will jedoch bestimmte Kategorien von Obdachlosen nicht einfach »wegdefinieren«. Bisher sei unstrittig gewesen, daß alle Menschen, die nicht nur vorübergehend in Notunterkünften untergebracht sind, auch als Obdachlose gelten — und das seien allein 14.000 bis 16.000 Aus- und Übersiedler sowie 2.000 Menschen, »die auf der Straße leben«. Hinzu kommen die rund 6.800 amtlich erfaßten Obdachlosen, denen die elf westlichen Bezirke derzeit Unterkunft gewähren.

Die kommunale Sozialverwaltung in den Ostbezirken kennt laut Sozialstadtrat Sparing noch keine genauen Obdachlosenzahlen — hier würden aber bereits 73 Übernachtungsmöglichkeiten bereit gehalten. Niedrigschwellige Angebote wie das Übernachtungsheim Franklinstraße mit seinen 70 Plätzen werde von West- und Ostberlinern genutzt. Sei dort kein Platz, stünden immer noch rund 80 Plätze in acht Berliner Kirchengemeinden zur Verfügung, die im Rahmen der »Kältehilfe 1990/91« eingerichtet wurden. Hier blieben pro Nacht und Einrichtung, so Gallon, zur Zeit sogar noch ein bis zwei Plätze frei. Ein weiterer »Puffer für Notsituationen« böte das »1.000er- Programm«, mit dessen Hilfe Obdachlosen per Tagessatzzahlung befristete Plätze in Aus- und Übersiedlerwohnheimen angeboten werden könnte. Mittel für 500 bis 600 Plätze (von 1.000 möglichen) würden derzeit von den Bezirken genutzt.

All diese Möglichkeiten sprechen sich laut Gallon also rum — herum spricht sich aber auch, daß die im Entwurf des Ostberliner Haushaltsplans 1991 vorgesehenen fünf Millionen Mark (Westhaushalt 91: acht Millionen Mark) für Wärmestuben, Beratungsstellen und Übernachtungsheime noch lange nicht gesichert sind. Obdachlosigkeit könnte neben der zunehmenden Arbeitslosigkeit jedoch gerade hier zunehmend zum Problem werden. Besonders bedroht sind Familien, die monate- oder jahrelang keine Miete mehr bezahlt haben; allein im Bezirk Marzahn wird nach Angaben von Wohnungsbaugesellschaften wegen Mietrückständen mit 800 Kündigungen gerechnet. Die Sozialverwaltung wies gestern deshalb alle, denen gekündigt wird, auf ihren Rechtsanspruch auf Beratung und Hilfe vom betreffenden Sozialamt hin. Darüber hinaus bat Sozialsenatorin Stahmer alle Ostberliner Wohnungsbaugesellschaften, Häuser oder Wohnungen für eine Zwischennutzung durch obdachlose Menschen zu benennen. Parallel nötig sei jedoch massiver Wohnungsbau und die Wiedereinführung der Mietpreisbindung — dies bleibe deshalb auch Verhandlungsgegenstand der laufenden Koalitionsgespräche. Für die AL kein befriedigendes Rezept: Ohne verstärkte Erhöhung der Belegungsrechte für Sozialwohnungen werde die Katastrophe Obdachlosigkeit weiter voranschreiten. maz