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Iphigenie, wiederaufbereitet

Pina Bausch präsentiert erneut ihre Erfolgsproduktion von 1974  ■ Von Frieder Reininghaus

Die Choreographin Pina Bausch erhielt am 8.Dezember den mit 25.000 DM dotierten Staatspreis des Landes Nordrhein- Westfalen aus der Hand des Landesvaters Johannes Rau, da sie sich „in besonderer Weise um das moderne Tanztheater verdient gemacht“ habe. Zwei Tage später präsentierte sie die Produktion, mit der sie 1974 in Wuppertal reüssierte: die Tanzoper Iphigenie auf Tauris. Es ist ein Remake nach der Videoaufzeichnung ihrer Inszenierung der Gluck- Oper, einer Bearbeitung einer Bearbeitung einer Bearbeitung etc.

Claude Guimond de La Touche transportierte nach dem Geschmack des Jahres 1757 die Tragödie des Euripides, die den Mythenstoff in klassische Form gebracht hatte; dieses Drama wurde von Nicolas Guillard für Christoph Willibald Gluck und dessen Kollegen Francois-Joseph Grossec (später der markanteste Komponist der Revolutionsära in Frankreich) zum Libretto umgemodelt; mit J.B.von Alxinger fertigte Gluck 1781, zwei Jahre nach der Pariser Uraufführung, eine deutsche Fassung für Wien an — die benutzte Pina Bausch als Vorlage für ihre Version. Ihr Tanzensemble unternimmt, was Gluck in einer Szene des zweiten Akts riskierte, einen ganzen Abend lang: durch Körpersprache das im Text nicht ausgesprochene, das Unausgesprochene der Musik zum Ausdruck zu bringen.

Zur Gewittermusik erfüllen die taurischen Priesterinnen den Ort, edel und schlicht. Die Stätte ist in historischem Niemandsland angesiedelt: hinten begrenzt durch eine riesige Metallplatte, seitwärts durch Scheinwerfer. Sechs Leienntücher baumeln an sechs tiefgehängten Zügen. Halb verhangen die Badewanne, in der das — angeblich durch göttliche Gnade — ins ferne Barbarenland entrückte Kriegsopfer Iphigenie einen Angsttraum ansiedelt: In dieser weißen Wanne sieht sie ihren Vater Agamemnon, der sie um günstiger Winde willen für den Troja- Feldzug zu schlachten bereit war, durch die Hand der Mutter Klytämnestra sterben.

In dieser Wanne wird Iphigenie im vierten Akt stehen, um Hand an einen der beiden Fremden zu legen, ihn zu opfern — das ist auf Tauris nun mal so Sitte. Pina Bausch läßt einen klassisch schlichten Tisch neben die Badewanne rücken und Blumen auf den Schlachttisch streuen. Orest, umringt von den anmutigen Priesterinnen, nähert sich. War er bei seinem ersten Erscheinen zusammen mit Freund Pylades auf eine Leiter gebunden, Zeichen des rüden Umgangs mit unerwünschten Touristen und Asylanten, so trägt er schließlich das Marterinstrument selbst und scheinbar ohne Zwang, eingedenk seiner Schuld und der Verfolgung durch die Eumeniden müde; er trägt die Leiter wie Jesus von Nazareth sein Kreuz nach Golgatha. Aber noch ist es nicht soweit mit den Urenkeln des unseligen Tantalus, noch hat sich Orest nicht mit stark hervorstehendem Adamsapfel unters Messer gelegt und Iphigenie nicht zum Stoß ausgeholt.

Zuerst ist in Erfahrung zu bringen, daß nicht nur die um Erlösung vom Unwetter flehenden Priesterinnen, sondern auch der Taurerkönig Thoas von der Furcht vor der Rache der Götter geplagt wird. Lutz Förster stelzt als Gewaltherrscher herein, läßt den harten Ledermantel wie ein Schneckenhaus stehen, um seine innere Aufgewühltheit in eckige, groteske Gesten umzusetzen. Dieser Derwischtanz des um seine Macht Bangenden erscheint als einer der gelungensten Momente der Inszenierung. Übertriebenheit ganz anderer Art zeichnet die Bewegungen der als Iphigenie agierenden Malou Airaudo aus: Immer wieder schreckt sie hoch und sinkt dann wieder in sich zusammen, kippt weg und kommt zum Erliegen; Händeringen, Schulterkugeln, Rückwärtstrippeln und Kreisbewegungen in allen Körperstellungen ist beim Tanztheater dieses Typs durch seine Herkunft vom Ballett noch obligatorisch.

Gesungen wird in Wuppertal von den seitwärtigen Balkons, damit auf der Bühne ungehindert gemimt und getanzt werden kann; aber mit Malina Pawlowa, Theo van Cemert, Siegfried Schmidt mag bestenfalls eine C- oder D-Besetzung aufgeboten worden sein (aber vielleicht haben sich die Leistungsträger des Wuppertaler Sängerensembles ja für das bevorstehende Gastspiel im traditionellen Palais Garnier, der ehemaligen Grand Opéra von Paris, geschont). Der Dirigent Peter Gülke schien sich mit den eklatanten Mängeln der Sängertruppe abgefunden zu haben und konzentrierte seine Bemühungen auf das Orchester, das den einfachen Gluck-Tonsatz aber auch nicht ganz befriedigend absolvierte. Diese Musik, das zeigten zuletzt auch die von Gary Bertini in Frankfurt geleiteten Iphigenien, gehört zum Einfachen, das schwer zu machen ist.

Doch auf die Stimmigkeit der Musik kommt es wohl bei diesem Unternehmen nur bedingt an. Sie wird als bloße Grundierung für das „Eigentliche“ genommen: für den „Ausdruckstanz“, der mit Gesten nochmals nachzeichnet, was der Text an Bewegung vorgibt und an Gefühl dementiert, was die Musik in ihren Orchesterkommentaren hörbar umtreibt. Die Fangemeinde ist von dieser Rückbesinnung auf die Anfänge der Bausch-Arbeit in Wuppertal hin- und hergerissen. Zu sehen ist jetzt freilich, wie sehr das Neue altert: die höchst begrenzte Zahl möglicher und von Pina Bausch jeweils nur zugelassenen Bewegungen und Gesten korrespondieren zwar mit dem reduzierten Kontingent der musikalischen Formeln Willibald Glucks, doch erscheint die Bausch-Inszenierung nicht nur als Bereicherung für das Werk: Sie trägt eben sehr deutlich Reduktionscharakter. Die Choreographin entwickelte die Arbeit mit ihrem Ensemble von dieser „Tanzoper“ weiter zu verselbständigten Etüden und Arien der Körperbeherrschung. Auf diesem Weg sind wir ihr mit Interesse und Neugier gefolgt. Nun aber kehrte die frisch gekürte Staatspreistanzmeisterin zu ihren Anfängen zurück. Und da zeigt sich durch die Distanz von mehr als eineinhalb Jahrzehnten, welche Veränderung die Unterhaltungskünste in den siebziger und achtziger Jahren durchlaufen haben und unsere Sehgewohnheiten mit ihnen.

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