: Antastbare Träume
■ Alain-Fourniers „Der große Meaulnes“ im Bremer Manholt-Verlag — Laterna Magica-Buch
Es ist, als bewegte sich auf den ersten Seiten leise ein Vorhang. Und auf einmal kommt ein kleiner Windstoß und gibt den Blick frei: und dahinter liegt eine Welt still wie Schnee — als hätte sie schon lange auf uns gewartet.
Aber jetzt sind wir ja da — wie zu einem alten Bild zurückgekommen, zu einem früheren Leben: in die archaische Landschaft unserer Kindheit. Ein Ort, wo die kalten Sonntage wohnen: In „Der große Meaulnes“ ist er einer am Ende der Welt. Wo im Herbst immer schon eigentlich Winter ist, wo Eichhörnchen sogar im Unterholz erfrieren, wo nur Türen sich bewegen und Dachboden-Dielen. Draußen ziehen Ackerfurchen die Zeit bis in alle Ewigkeit. Und wenn einmal etwas mit dem Pferdewagen kommt, sind das höchstens Hüte für verhärmte Mütter, die sonst verhärmte Kleider ausbessern in zugigen Zimmerchen und mit Schulmeistern ängstliche Söhnchen zeugen. In diese er
hierhin bitte
den Mann mit
Mütze
starrte Idylle bricht eines Tages der große Unbekannte Meaulnes wie die Nacht herein, die geheimnisvolle. Sofort ist nichts mehr, wie es war. Der große Meaulnes (sprich: Mohn), 17 Jahre alt, ist ein Traumwanderer. Obwohl das immer noch zu diesseitig klingt, so, als wäre er einer von ihnen gewesen. Der große Meaulnes ist aber keiner von ihnen — den paar kleinen Pensions-Schülerlein, die sich nach Krieg-der-Knöpfe-Manier schon mal eins auf's Mützchen geben. Mit dem großen Meaulnes kommt verstörender Ernst in die Sache Leben. Er ist eine mystische Schlüsselfigur, dem sich Türen zu Träumen deshalb öffnen, weil er unbedingt an Phantasmagorien glaubt. Dieser „große Meaulnes“ von 1913, der erste und einzige (und berühmteste französische Jugend-)Roman des katholizistischen Henry Alain-Fournier, ist eine außerordentlich merkwürdige Geschichte im Wortsinn. Sie handelt groß und einfach von einer so großen wie einfachen Sehnsucht — der Sehnsucht nach Glück und dem Bestehen darauf, um heil und ganz und eben Kind zu bleiben. Und die unbändige Natur ist die Mittlerin, von der man sich in die Irre führen lassen muß, um Zauber und Wunder zu finden, vielleicht ein altes Schloß — wie der große Meaulnes, der eines Nachts in klirrender Kälte den richtigen (!) Weg verfehlt und dafür Eintritt in ein arkadisches Reich erhält, das ist bevölkert von stolzen Kindern, kostümierten Gauklern, bizarr erwachsenen Dummerchen: Wie es huscht und zischt in allen Ecken, ein Fest ist im Gange, man tanzt, man ißt und trinkt in großer runder Ruhe, die Stunden haben Brokatbesatz.
Quälend liebliche Visionen werden kraftvolle Bilder: junge Mädchen in weiten kastanienbrauen Umhängen spielen Klavier, Kinder in Samtjacken sehen sich Bilder in großen Alben an. Und schließlich die junge Schloßherrin ... Nie war es so, nie wieder wird es so sein. Der Traum ist für einen Moment wahr geworden und beginnt sofort mit seiner Auflösung. Das ist die Botschaft: das Abschiednehmen vom Kindsein ist schmerzvoller Initiationsritus, darin enthalten sind Tod und Trauer. Aus Meaulnes wird ein schrecklicher Engel werden: Je mehr er seine Träume erfüllen will, desto verlorener sind er selbst und alle die, die er immer wieder in alle vier Himmelsnächte verläßt.
„Der große Meaulnes“ macht einen verwirrt melancholisch. Ein Sog geht von ihm aus, weil er irisierendes Licht verstreut und doch in allem ein düsteres Raunen ist wie in einem hohen Tannenwald. Als romantische Seele hat Alain-Fournier die Natur natürlich verklärt und als Gefühlspendant ausgestattet. Aber beide sind so klar und kraftvoll und wesentlich, daß man Sehnsucht bekommen möchte. Claudia Kohlhase
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