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Gleich hinter Spandau wird Berlin zum Dorf

■ Geschichte eines 4.000-Seelen-Dorfs/ Seit der Vereinigung gehört West-Staaken wieder zu Spandau, und die Beamten stöhnen

Spandau. Fußgänger in Spandau grüßen freundlich jeden Passanten auf der Straße, Westberliner PostbeamtInnen schieben statt hinter Panzerglas am simplen Schreibtisch Schalterdienst, und das Fahrrad ist beliebtestes Beförderungsmittel. Jahrhundertwende? Der Paragraph 218 gilt mit Fristenregelung, Verwaltungsbeamte »überführen« und »wickeln ab«. Die Rede ist von West- Staaken, einem 4.000-Seelen-Dorf an der Heerstraße, gleich beim früheren Transitübergang.

Seit dem 3. Oktober gehört der westliche Teil Staakens per Einigungsvertrag wieder (wie schon 1920-45) zum Bezirk Spandau — und bereitet der überraschten Bürokratie dort einiges Kopfzerbrechen. »Die Verfasser des Einigungsvertrages haben nichts kapiert«, stöhnt Axel Hedergott, der im Spandauer Rathaus die Angliederung West- Staakens koordiniert. Die Vorgeschichte: Dem Bezirk war das 1920 eingemeindete Dorf am westlichen Stadtrand Ende 1945 durch einen Gebietstausch der Alliierten weggenommen worden. Die Briten brauchten Platz für ihren Flughafen, teilten deshalb die Ansiedlung und tauschten deren westliche Hälfte gegen den sowjetisch besetzten »Seeburger Zipfel« östlich von Gatow ein. Der Einfachheit halber überließen die Sowjets zunächst noch den Westberlinern die Verwaltung ganz Staakens. Im Februar 1951 aber reklamierte die DDR ihre vollen Hoheitsrechte, ließ Volkspolizisten den westlichen Teil besetzen und schlug den Ort als »Landgemeinde Staaken« dem Kreis Nauen zu.

Seitdem schlief das Örtchen in der Provinz — bis die Mauer fiel und auch die Weststaakener Gesamtberliner werden sollten. Anfängliche Bedenken des Senats (»Wir wollen keine Annexion«) verschwanden angesichts des fast einhelligen Willens von Bevölkerung und Gemeinderat — bei einer »Probeabstimmung« unter 400 Einwohnern gab es nur ein Nein zur Vereinigung. Und da nach offizieller Ansicht West-Staaken rechtlich Teil Berlins (in den Grenzen von 1920) geblieben war, wurde es am 3. Oktober quasi automatisch dem Bezirk Spandau angegliedert. Was den Verwaltungsbeamten heute graue Haare wachsen läßt. Axel Hedergott: »Wir haben es mit altem DDR-Recht, Bundesrecht, Vereinigungsrecht und Landesrecht gleichzeitig zu tun.« Spandauer Bezirksbeamte müssen bei Weststaakener Angelegenheiten stets die abweichende Rechtslage im Auge behalten, was eine Fülle von Neuerungen und Problemen mit sich bringt. So muß auf die Forderung der Staakener Kohlenhändler nach Subventionen reagiert werden, soll die polytechnische Oberschule in eine Grundschule umgewandelt werden, muß die BSR plötzlich auch die im Westen längst abgeschafften Sickergruben entsorgen. Bewag und Gasag spüren derzeit dem noch unbekannten Verlauf der Versorgungsleitungen nach, Telefonhäuschen mit direktem Draht zum Berliner Telefonnetz sind frisch installiert. Die Behörden müssen mit ansonsten ungewohnter Flexibilität handeln.

Auch mit den »alten Seilschaften«, so der Planungsbeauftragte, haben die Beamten ihre Last: Trotz mehrmaliger Aufforderung rücken die Potsdamer und Nauener Behörden bislang die Grundbücher und Kataster nicht heraus. »Ohne die können wir nichts planen«, umschreibt Hedergott die »ungute Situation«. Investitionsvorhaben und Gewerbeverträge liegen daher auf Eis.

Weiteres Kuriosum: Die Staakener Klinik »Dr. Walter Benjamin« fungiert als Kreiskrankenhaus von Nauen, verbleibt daher in der Trägerschaft des Kreises — und führt, entsprechend den Regelungen des Einigungsvertrages, als einziges Spandauer Krankenhaus Schwangerschaftsabbrüche nach altem DDR-Recht, also ohne Indikation durch. »Ein Unikum im wahrsten Sinne des Wortes« ist die komplizierte Rechtslage auch für Bezirksbürgermeister Werner Salomon, der zu deren Bewältigung eine »Arbeitsgruppe Staaken« ins Leben gerufen und die Integration der »Neu-Spandauer« zum persönlichen Anliegen gemacht hat.

Seinen Job los ist dagegen der seit Mai amtierende SPD-Bürgermeister von West-Staaken, Peter Radziwill. Eine selbständige Gemeindeverwaltung existiert nicht mehr, wenngleich der Bezirk 150 der 165 öffentlich Bediensteten übernahm. Ein politisches Mitspracherecht haben die Angegliederten nur noch durch vier Bürgerdeputierte, die in einen Ausschuß der BVV berufen wurden. Die Weststaakener selbst haben da weniger Probleme. Sie fahren zum Rathaus eben statt nach Nauen ins nahe Spandau, wo sie eh einkaufen, und sind auf ihre Berlin-Zugehörigkeit mächtig stolz. »Wir sind ja von heute auf morgen zu Großstädtern geworden«, meint die Staakenerin, die gerade zur »Bürgerberatung« des Bezirksamtes ins Ex-Gemeindeamt geht. Die Probleme des Ortes sieht sie »bei den Spandauer Politikern in guten Händen«. Denen bleibt trotz aller Schwierigkeiten ein kleiner Trost: Während die Sozialdemokraten in »Alt-Spandau« bei den Bundestagswahlen auf ein Rekordtief absackten, wurde in West-Staaken eine satte SPD-Mehrheit ausgezählt. Markus Ermert

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