Im Notfall die Bescherung am Werkstor

Die Simson Fahrzeug GmbH in Suhl steht vor dem Aus/ 3.800 Arbeitsplätze bedroht/ Belegschaft besetzte Betrieb/ Kritik an der Treuhand  ■ Aus Suhl Bernd Siegler

„Simson tot — Suhl in Not“. Die Losung auf dem Transparent über dem Werkstor der Simson Fahrzeug GmbH in der südthüringischen Kleinstadt Suhl ist kurz. Doch die Lage ist damit auf den Punkt gebracht. Die traditionsreiche Firma ist mit 3.800 Arbeitsplätzen der größte Arbeitgeber der 56.000 Einwohner zählenden Stadt. Wo einstmals 200.000 Kleinkrafträder im Jahr gefertigt wurden, stehen seit Montag die Räder still. „Betriebsurlaub“ nennt das die Geschäftsleitung, „Kurzarbeit auf null“ die betroffenen Arbeiter. Gefragt nach der Stimmung im Betrieb hält sich ein 61jähriger Ingenieur auch nicht mit langen Reden auf. Schlicht ballt er die Hand zur Faust. Seit einer Woche halten die Arbeiter die Werkstore besetzt und protestieren gegen das drohende Aus für das Unternehmen.

„Wer jetzt nur zusieht und nicht bereit ist, für seinen Arbeitsplatz zu kämpfen, wird in Kürze viel Zeit haben, sich nur noch um seine Wohnung, sein Haus oder seinen Garten zu kümmern.“ Spätestens seit dem 6. Dezember braucht Georg Vater, Werkzeugmacher bei Simson, seinen Appell nicht mehr zu wiederholen. Am Nikolaustag reichte die Simson-Geschäftsleitung beim Suhler Kreisgericht den Konkursantrag für das Traditionsunternehmen ein.

Schon 1856 gingen die Simson- Werke in Suhl in Betrieb. In alter Suhler Tradition wurden dort Gewehrläufe und Jagdwaffen hergestellt. Neben Fahrrädern und Militärgewehren wurde die Produktpalette 1911 um den Bau von Nobelkarossen erweitert. 1933 emigierte die Simson-Familie in die USA. Ein Jahr später kam das Aus für die Kfz-Produktion, Maschinengewehre und Motorräder standen fortan auf dem Programm. 1952 ging Simson in Volkseigentum über, der VEB Fahrzeug- und Jagdwaffenwerk „Ernst Thälmann“ entstand.

Seit Mitte der 50er Jahre konzentriert sich die Fahrzeugproduktion auf Mokicks und Motorroller. Das Mokick-Modell S 50 entwickelte sich zum Exportschlager in den Osten. Mitte der 80er wurden pro Jahr über 200.000 Stück gefertigt. Mit der Wirtschafts- und Währungsunion geriet die Fahrzeug-GmbH ins Trudeln. Der Verkauf im Inland fiel nach der Grenzöffnung auf null, drastische Einbußen auf den größten Absatzmärkten im Osten führten zur Zahlungsunfähigkeit des Unternehmens. Die ehemaligen RGW-Staaten konnten ihre Käufe nicht mehr über den transferablen Rubel verrechnen, sondern sollten ab 1. Juli harte Devisen auf den Tisch legen. Die Simson- Geschäftsleitung erarbeitete zwar ein Sanierungskonzept, das 1991 von einem Absatz von 60.000 Kleinkrafträdern ausgegangen war. Doch bislang liegen nur 3.708 Bestellungen vor. Der Werbespruch „Simson — Tradition, auf die man bauen kann“ gilt nicht mehr.

„Der Konkursantrag ist eine Chance für einen Neuanfang“, gewinnt Betriebsratsvorsitzender Klaus Brückner dem Schritt vom 6. Dezember noch etwas Positives ab. „Spätestens da haben die Leute begriffen, daß ihnen das Wasser bis zum Hals steht“, erklärt Brückner, der zuvor als Hauptabteilungsleiter bei Simson tätig war. Die Stimmung sei von „depressiv in kämpferisch“ umgeschlagen. Eine Woche nach dem Konkursantrag besetzte die Belegschaft den Betrieb und 2.000 Simson-Arbeiter marschierten zum Suhler Treuhandbüro. Als der örtliche Treuhandchef Brändle, ein Import aus Baden-Württemberg, keinerlei Anstalten machte, die Demonstranten auch nur anzuhören, blockierten die Arbeiter spontan die wichtigste Kreuzung der Stadt.

Diese erste Machtprobe zeigte Wirkung. Die Treuhand sicherte zunächst die Zahlungsfähigkeit des Unternehmens, die Geschäftsleitung zog den Konkursantrag zurück, und die Auszahlung der Dezemberlöhne und —gehälter war gesichert. „Ein Zwischenergebnis, das zeigt, daß man sich erfolgreich wehren kann“, bilanzierte das Lokalblatt 'Freies Wort‘. Ein „kurzfristiger Erfolg“, bestätigt Erwin-Peter Winter, 1. Bevollmächtigter der IG Metall in Bad Hersfeld und derzeit hauptamtlich in Suhl tätig. In Übereinstimmung mit dem Betriebsratsvorsitzenden Brückner sieht er jedoch „überhaupt keinen Grund“, die Besetzungsaktion zu beenden. Sie soll so lange fortgeführt werden, bis ein tragfähiges Konzept für die gesamte Belegschaft vorliegt. „Notfalls gibt es die Weihnachtsbescherung am Werkstor.“

In Zusammenarbeit mit der IG- Metall West — die IG Metall Ost ist bis heute untätig geblieben — hat sich der Betriebsrat Gedanken um die Zukunft von Simson gemacht. „Wir brauchen eine am Markt orientierte Fahrzeugproduktion“, plädiert Brückner für ein Zurückfahren der Stückzahlen. Die sanierungsfähigen Betriebsteile wie Schmiede oder Werkzeugbau müßten erhalten bleiben, Exporte in Drittländer insbesondere in die Ostblockstaaten sollten subventioniert werden. Für die Arbeiter, die in der Fahrzeugproduktion dann nicht mehr gebraucht würden, müßte mit staatlicher Unterstützung eine sogenannte „Entwicklungsgesellschaft“ gegründet werden. „Von innen heraus müssen Ideen für neue Arbeitsplätze enstehen“, betont der IG-Metaller Winter und wendet sich gegen Vorzeigeprojekte wie die milliardenschwere Ansiedlung von Opel in Eisenach. „Die Subvention, die Opel für die Ansiedlung in Eisenach einstreicht, wollen wir für die Sanierung der bereits existierenden Betriebe vor Ort.“ Die Liste allein der stark gefährdeten Betriebe mit mehr als 1.000 Beschäftigten in der unmittelbaren Umgebung von Suhl ist lang: Elektrogeräte Suhl, Maxhütte in Unterwellenborn, Robotron in Meiningen, Anlagenbau in Ilmenau, Zeiss in Eisfeld etc.

„Wir müssen verhindern, daß der Betrieb aufgeteilt wird“ , gibt Brückner die Devise aus. Bisherige „Betriebssanierungen“ in den fünf neuen Bundesländern liefen in der Regel auf die Atomisierung in kleine Einheiten hinaus. Simson-Aufsichtsratsvorsitzender Dieter Schäfer, Geschäftsführer der Industrie- und Handelskammer in Würzburg, will dagegen eine „Ausgliederung selbständig operationsfähiger Firmenteile“ und liegt damit voll auf Linie der Treuhand. Deren Sprecher Peter Schneider favorisiert „Pläne zur Entflechtung der Firmen“.

Auf die Treuhand sind die Simson-Arbeiter nicht gut zu sprechen, hat doch beim „größten Konzern der Welt“ Privatisierung Vorrang vor Sanierung. „Die haben noch keinen einzigen Betrieb saniert, die wollen nur verkaufen“, schildert Winter seine Erfahrungen mit der Treuhand. Roland Deschler (SPD), stellvertretender OB von Suhl, wirft der Berliner Anstalt „schleppende Aktion“ vor und solidarisiert sich mit der Belegschaft. Die von einer großen Koalition aus CDU, SPD, FDP und DSU gebildete Ratsmehrheit hält Simson für ein „regionales Problem“. Bei der Bevölkerung sei, so Deschler, bereits „Ernüchterung“ eingetreten. Sprühschriften wie „Uns reicht's“ stören den trügerischen Frieden auf dem Weihnachtsmarkt. Dank der Galgenfrist durch die Treuhand rollen ab 7. Januar die Bänder bei Simson wieder. Für Januar stehen ganze 750 Mokicks und 350 Roller unter Vertrag. Dann wird sich in Gesprächen zwischen Treuhand, Landesregierung, Geschäftsleitung und Gewerkschaft entscheiden, ob der Slogan „Simson — Gute Fahrt in Stadt und Land“ noch Gültigkeit hat und das neuentwickelte Mokick mit Katalysator eine Chance für die Serienreife bekommt.