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Mahnen für Litauen

■ Litauer demonstrieren vor der Botschaft der UdSSR

Mitte. Vor der Außenstelle der sowjetischen Botschaft Unter den Linden versammeln sich Sonntag mittag die ersten Demonstranten. Es sind Litauer, und gekommen sind sie, um zu mahnen und zu demonstrieren. Denn in Litauen werden von sowjetischen Militärs Menschen erschossen und das Völkerrecht mit Füßen getreten. »Freiheit für Litauen« und »Schluß mit dem Hitler-Stalin-Gorbatschow- Pakt« steht auf den selbstgemalten Plakaten, und einige Fahnen in den rot-grün-gelben Landesfarben flattern im Wind. Es sind wenige, die da gekommen sind, denn es leben nicht viele Litauer in der Stadt. Aber die Mahnwache war erst wenige Stunden zuvor von den drei Litauerinnen Jurate Dindas, Cornelia Klein und Raminta Lampsatis über Telefonkette organisiert. »Ich bin über die Nachrichten aus Litauen wie gelähmt«, sagt Jurate Dindas, »die Besetzung Vilnius ist das Ende des Traumes eines freien Litauens.« Nicht einmal weinen kann sie mehr, und die Sorgen um ihre Verwandten und Freunde lassen sie verzweifeln. »Ich befürchte, daß auch bei einer großen Plakatierung nicht viele Menschen gekommen wären«, sagt Raminta Lampsatis, eine litauische Pianistin. »Die Deutschen wollen nicht begreifen, daß die Ursache des ganzen Leides in den baltischen Staaten mit dem Hitler-Stalin-Pakt von 1939 begann.« Zur Mahnwache gekommen ist auch Antanas Petrijkonis. Von der Telefonkette hat er nichts geahnt, denn er ist nur Tourist. »Ich wußte nur, mein Platz ist jetzt vor der sowjetischen Botschaft.« Antanas P. hat die Folgen des Hitler-Stalin-Paktes bitter am eigenen Leib gespürt. Als 15jähriger wurde er zur Zwangsarbeit in die Bergwerke am Polarkreis verurteilt, entlassen wurde er erst 1963, mit der Auflage, nie wieder in Litauen Wohnsitz zu nehmen. Wenige Tage, nachdem sich Litauen am 11. März 1990 unabhängig erklärte, kehrte er nach Vilnius zurück und arbeitet seitdem für die Bürgerrechtsbewegung Sajudas. »Wir sind keine Nationalisten«, sagt er, »wir wünschen uns, daß Russen, Polen, Juden und Litauer gemeinsam in einem freien Land gleichberechtigt miteinander leben.« Jetzt hat Antanas P. Angst zurückzukehren, aber ob er hier als gestrandeter Tourist besser für sein Land kämpfen kann, weiß er nicht. Schiere Verzweiflung treibt auch Erdvilas Valudis vor die sowjetische Botschaft. Sein Vater ist Leiter der litauischen Rundfunk- und TV-Anstalt und befindet sich seit Tagen im besetzten Gebäude. Jetzt hat er keine Nachricht mehr und gestern wurden dort 14 Menschen erschossen. Auch Erdvilas ist Tourist, und genau wie seinem Reisegefährten, der Frau und Baby in Vilnius weiß, laufen ihm die Tränen über die Wangen. Anita Kugler

Heute und in den nächsten Tagen finden jeweils um 17 Uhr Unter den Linden Mahnwachen statt. Kerzen sollen mitgebracht werden.

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