: Scheibengericht
■ Madonna / L.van Beethoven / Leningrad Cowboys / Charles Brown / Happy Mondays
MADONNA
Justify my Love
VHS Video
WEA
Madonna, so berichtet der 'Musik- Express‘ in seiner neuesten Nummer, sollte einmal in einem Werbespot für die Sportschuhfirma Nike auftreten. Ein Honorar von 4,25 Millionen Dollar wurde vereinbart. Als sich aber herausstellte, daß sie den Schuh im Spot auch noch anziehen sollte, ließ Madonna den Vertrag platzen. Das Honorar versuchte sie über ihre Anwälte einzuklagen, allerdings ohne Erfolg. Ein Jahr zuvor, 1989, hatte Pepsi Cola sie fallenlassen. Madonnas Videos waren dem Unternehmen, das einen millionenschweren Werbevertrag mit der Künstlerin geschlossen hatte, zu anstößig. Pepsi Cola verlor dabei fünf Millionen Dollar.
„Sex — mit Kalkül zur großen Kohle“, titelt der 'Musik-Express‘ — Madonna prangt im Domina-Anzug auf dem Cover: Honni soit qui mal y pense. 39 Millionen Dollar habe sie im letzten Jahr mit ihrer „Masche“ verdient, sie sei die bestverdienende Entertainerin der Welt, erzählt der 'Musik Express‘ weiter, und vergißt bei den Geschichten von Nike und Pepsi Cola zu erwähnen, daß sich Madonna von den Herren, die sie ausnimmt, anscheinend nichts vorschreiben läßt und ab und an lieber auf ein paar Millionen verzichtet.
„Eine platte Provokation; dieses Video können wir Kindern und Jugendlichen unmöglich zumuten“, so lautete die ehrlich entrüstete Antwort jener deutschen Fernsehsender, die sich mit Sex ihre Zuschauerquoten sichern, auf die Frage der taz, warum denn das Justify my Love-Video bei ihnen nicht ausgestrahlt werde. Noch verdrehter als RTLplus und Sat.1 argumentierte RIAS-TV: Das Video sei musikalisch schlecht, darum werde es nicht gesendet. RIAS-TV hat nach der taz-Meldung seine Meinung geändert. Die Nordkette der ARD soll das Video auch schon mal gesendet haben. Ende Januar kommt es in den Handel.
Madonna geht einen langen Hotelgang entlang. Oder ist es ein Bordell? In einem Türrahmen erkennt man eine Domina, in einem andern einen Mann mit nacktem Oberkörper. Madonna scheint gerade angekommen zu sein. Sie trägt Mantel und einen Koffer in der Hand. Offensichtlich ist sie fiebrig, sie schwankt, sie fährt sich mit dem Handrücken über die Stirn. Den Koffer läßt sie fallen und lehnt sich an die Wand. Hier erweist sich, daß sie unter dem Mantel nur Dessous trägt. „I wanna kiss you in Paris“, ist ihre erste Textzeile. Von fern nähert sich ein zweiter Mann: ihr Liebhaber Tony Ward, der es auch im wirklichen Leben ist. Ein paar andere Leute kommen dazu.
In flüchtigen Gesten und Einstellungen werden alle möglichen Varianten vorgeführt — Travestie, Oral- und Analerotik, schwule und lesbische Liebe, Masturbation, Sado-Masochismus, Dreierkonstellationen, ohne daß es je unangenehm didaktisch würde. Teils machen Madonna und ihr Liebhaber mit, teils sehen sie zu, oder einer macht mit, und einer sieht zu usw. Es bleibt bei Andeutungen: Spielmöglichkeiten. Jean-Baptiste Mondinos Schwarzweißkamera arbeitet mit Unschärfen und ist leicht und beweglich. Wie von ungefähr schieben sich in bestimmten Momenten Türrahmen oder Paravents vors Geschehen. Ohnehin richtet sich ihr Blick weniger auf dies Geschehen selbst als auf den Blick, die Reaktion aufs Geschehen.
Am Ende trägt Madonna wieder Mantel und Koffer und schwankt wie zu Beginn, aber diesmal, so scheint es, aus Überglück und Ermattung, denn sie beißt sich jauchzend auf die Lippen, als könne sie es noch kaum fassen und läßt am utopischen Ort, wo freie Liebe möglich ist, ihren Liebhaber und die anderen zurück.
Was ist an der bloßen Andeutung von Sex so provokant, daß Sender, die mit Sex ihr Geld verdienen, vor einer Ausstrahlung dieses Videos zurückscheuen? Sind es wirklich die Andeutungen, oder ist es die Tatsache, daß Madonna im Video Herrin der Situation bleibt, daß sie kommt, sich nimmt, was sie will, und geht? Denn nichts, so lehrte auch die Titelgeschichte des letzten 'Spiegel‘, ist unheimlicher als weibliche Begierde, die sich offen artikuliert. Schade nur, daß die 'Spiegel‘-Autorin Ariane Barth es versäumt oder nicht wagt, Madonna als ein Beispiel hinzustellen.
Die Musik zu den Bildern ist arm: Das Schlagzeug bzw. der Drum-Computer spielt einen etwas stolpernden Grundrhythmus, der Baß zupft einen einzigen Ton dazu — das gibt ein eintaktiges Rhythmusmodell, das über die ganze Länge des Stücks stoisch wiederholt wird. Synthesizer und Backgroundvocals legen rhythmisch wenig definierte Schleier darüber, die dem Stück harmonische Farbe geben. Den Songtext spricht, raunt oder haucht Madonna, rhythmisch ebenfalls frei. Nur der Refrain ist genau taktiert, aber auch hier wird nur jeweils die zweite Zeile wirklich gesungen: „(Wanting, needing, waiting) For you to justify my love“.
Das Stück klingt zunächst, als hätte sich sein Produzent Lenny Kravitz, der seit seiner Platte Let Love Rule als eine der allergrößten Hoffnungen des Pop gilt, wenig Mühe gemacht. Wer es aber allzu simpel findet, sollte mal den Versuch machen mitzuzählen. Ein Viervierteltakt, natürlich. Aber wo ist die Eins? Eine einzige Raffinesse gibt es in Justify my Love — also weit mehr als im Durchschnitt. Beim bloßen Hören ist sie kaum zu bemerken, es sei denn als ein leichter Schwindel. Man vermutet die Eins im Grundrhythmus solange an der „falschen Stelle“, bis Madonna zum ersten Mal singt: „For you...“. Dieses „For you“ ist auftaktig und legt die Eins an anderer Stelle fest, als man sie bisher vermutete: genau ein Achtel später. Eine Art Schauer geht beim „For you“ durch die Musik. Innerlich organisiert sie sich neu, während sich äußerlich — an der Klanggestalt des Grundrhythmus — nicht das geringste ändert.
Derart reduzierte Arrangements wie in Justify my Love, die die Hörer fast um ihre Erwartungen betrügen, können sich überhaupt nur Superstars leisten. Exemplarisch sind da Princes Sign o' the Times und Neneh Cherrys I've Got You under my Skin vom Red, Hot and Blue-Sampler. Solche Stücke haben meist proklamatorischen Charakter, die Reduktion dient auch der Textverständlichkeit. Prince singt von der Weltlage, Neneh Cherry über Aids, und Madonna erklärt in Justify my Love ihre Liebe, das heißt ihre Konditionen: „I don't wanna be your mother, I don't wanna be your sister either, I just wanna be your lover.“ Der Text gipfelt in der inzwischen fast schon sprichwörtlichen Maxime: „Poor is the man whose pleasures depend on the permission of another“ — „Arm ist der Mensch, der sich seine Lust von anderen vorschreiben läßt“. Und Madonna ist reich.
HAPPY MONDAYS
Pills 'n' Thrills and Bellyaches
Factory/Metronome
CD 828 223-2
Nicht einmal das Losgelassene und Aufgekratzte, die zuckende und manchmal ein bißchen debil wirkende Euphorie des im letzten Jahr von 'Spex‘ herausgegebenen Rave- Samplers, der auf die Dauer durchaus eine gewisse Suggestivität entfaltet, ist hier recht zu finden. Eigentlich handelt es sich um eine richtig englische Gitarrenrock- Platte, nur daß der im Durchschnitt schnellere Beat hervorgehoben und wahrscheinlich von Computern unterstützt wird. Die erhöhte Geschwindigkeit bewirkt, daß Shaun Ryders interessante, helle und nur ein klein wenig rauhe Stimme, die von Drogenerfahrungen berichtet, doch nicht ganz die Nöligkeit eines Morrissey erreicht, der leider auch bald wieder eine Platte herausbringt. Auch die Gitarren klingen ein bißchen anders als in den achtziger Jahren. Es ist eine Art psychedelischer Wobble darin, ein Eiern, als wäre der Plattenspieler nicht ganz in Ordnung. Und das Wah- Wah-Pedal ist wieder in Gebrauch.
Das ist jetzt also das ganz große Ding, so die Sonderkorrespondenten von 'NME‘, 'The Face‘ und 'Spex‘ aus Manchester, und bringt zwei an sich widerstreitende Bedürfnisse heutiger westlicher Jugend unter eine ganz große Baumwollkapuze: das Bedürfnis nach dem Verschwinden in warmer, weicher, gesichts- und geschlechtsloser Masse, das von Acid House allzu einseitig und anonym genährt wurde, und das Bedürfnis nach Identifikation und Helden, also das Bedürfnis nach Disko und das nach Rock, das Bedürfnis nach Ecstasy und das nach Bier.
Am wirksamsten ist der Kontrast zwischen verzerrten Gitarren und glatt funktionierendem Dance Beat nicht in den bekanntesten Stücken der Platte, Kinky Afro und Step on, sondern in God's Cop, ein Ratschen von Kreide auf der Tafel.
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