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Billiger Schnaps

■ Ossip Mandelstam, geboren am 15.1.1891, interviewte Ho Chi Minh

Der russische Dichter Ossip Mandelstam wurd am 15.1. 1891 in Warschau geboren; am 27. Dezember 1938 starb er in einem stalinistischen Zwangsarbeitslager in der Nähe von Wladiwostok. Auf deutsch erschienen u.a.: „Das Rauschen der Zeit“ (Prosa), „Mitternacht in Moskau“ und „Der Stein“ (Lyrik). Empfehlenswert ist der Suppelementband „Im Luftgrab“ mit Beiträgen von Paul Celan, Pierre Paolo Pasolini, Joseph Brodsky u.a., ebenfalls beim Ammann-Verlag erschienen.

Und wie hat sich die Gandhi-Bewegung in Indochina ausgewirkt? Gab es irgendwelche Ausstrahlungen, einen Nachhall?“ fragte ich Nguyen Ai Quoc (der damalige Name von Ho Chi Minh/ Anm.).

„Nein“, antwortete mein Gesprächspartner. „Das annamitische Volk, die Bauern, leben eingetaucht in eine tiefe, finstere Nacht — keinerlei Zeitungen, keinerlei Vorstellung davon, was auf der Welt vor sich geht. Nur Nacht, eine wirkliche Nacht.“

Nguyen Ai Quoc ist der einzige Annamit in Moskau, Vertreter einer alten malaiischen Rasse. Er ist fast noch ein Junge, hager und geschmeidig, in einem gestrickten, wollenen Seelenwärmer. Er spricht Französisch, die Sprache der Unterdrücker, doch die französischen Wörter klingen bei ihm glanzlos und matt, wie der gedämpfte Glockenschlag seiner Muttersprache.

Nguyen Ai Quoc spricht das Wort „Zivilisation“ mit Ekel aus. Er hat fast die ganze koloniale Welt durchfahren, war in Nord- und Zentralafrika und hat genug gelesen. Im Gespräch wiederholt er oft das Wort „Brüder“. Seine Brüder sind Afrikaner, Hindus, Syrier, Chinesen. Er hat einen Brief an René Maran geschrieben, einen französierten Farbigen, Autor des wild-exotischen Batouala, und ihm direkt die Frage gestellt, ob er, Maran, die Befreiung seiner kolonialen Brüder unterstützen wolle oder nicht. Der von der französischen Akademie gekrönte Maran habe zurückhaltend und ausweichend geantwortet.

„Ich stamme aus einer privilegierten annamitischen Familie. Diese Familien tun bei uns überhaupt nichts. Die Jugendlichen studieren Konfuzius. Sie wissen ja, der Konfuzianismus ist keine Religion, sondern eine Lehre der sittlichen Erfahrung und der Anstandsregeln. Als seine Grundlage setzt er den ,sozialen Frieden‘ voraus. Als Junge, etwa mit dreizehn, habe ich zum ersten Mal die französischen Wörter ,Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit‘ gehört. Für uns ist ja jeder Weiße ein Franzose — und ich wollte also die französische Kultur kennenlernen, mit meinen Händen spüren, was hinter diesen Wörtern steckt. Doch in ihren Schulen für die Einheimischen züchten Franzosen nur Papageien heran. Vor uns verstecken sie Bücher und Zeitungen, verbieten uns nicht nur die neueren Schriftsteller, sondern selbst Rousseau und Montesquieu. Was konnte ich da tun? Ich beschloß wegzufahren. Ein Annamit ist ein Leibeigener. Nicht nur Reisen sind uns verboten, auch die geringste Bewegung innerhalb des Landes. Die Eisenbahnlinien wurden zu ,strategischen‘ Zwecken angelegt: nach Auffassung der Franzosen sind wir noch nicht reif, sie zu benutzen. Ich schlug mich also zur Küste durch, na ja, und fuhr weg. Ich war neunzehn Jahre alt. In Frankreich waren gerade Wahlen. Die Bourgeois bewarfen sich gegenseitig mit Schmutz...“ — ein Zucken fast physischen Ekels läuft über Nguyen Ai Quocs Gesicht. Sonst trüb und matt, blitzt er nun plötzlich auf. In seinen aufgerisssenen Augen liegen schwere Tränen — mit dem Seherblick des Blinden schaut er an mir vorbei.

„Als die Franzosen kamen, liefen alle ordentlichen alten Familien auseinander. Irgendein Miststück, das sich anzudienen verstand, übernahm die verlassenen Häuser und Höfe. Nun haben die sich bereichert, bilden eine neue Bourgeoisie und erziehen ihre Kinder nach französischer Art. Geht ein Junge in meinem Land bei den französischen Missionaren zur Schule, ist er bereits Auswurf, Abschaum. Dafür bezahlen sie Geld. Und da gehen sie hin, die stumpfsinnigen Schwachköpfe, es ist dasselbe, als ob sie gleich Polizisten und Gendarmen würden. Den katholischen Missionaren gehört bei uns ein Fünftel des ganzen Landes. Nur noch die Konzessionäre können es mit ihnen aufnehmen.

Was ist ein französischer Kolonist? Oh, was für ein unbegabtes und beschränktes Volk. Ihre erste Sorge ist, ihre Verwandten unterzubringen. Dann — so schnell und so viel wie möglich zusammenzuraffen und zusammenzuräubern. Und das Ziel dieser ganzen Politik ist ein kleines Häuschen, das ,eigene Häuschen‘ daheim in Frankreich.

Die Franzosen vergiften mein Volk. Sie haben den obligatorischen Alkoholkonsum eingeführt. Bei uns nehmen wir ein wenig guten Reis und machen einen guten Schnaps daraus — wenn Freunde kommen oder für das Ahnenfest in der Familie. Die Franzosen nahmen einen schlechten, billigen Reis und destillierten Schnaps in ganzen Fässern. Keiner wollte den bei ihnen kaufen. Da gab es plötzlich zuviel Schnaps. Man wies den Gouverneuren je nach Bevölkerungszahl eine obligatorische Schnapsmenge zu und zwang die Leute, einen Schnaps zu kaufen, den keiner haben wollte.“

Ich konnte mir lebhaft ausmalen, wie man dieses sanfte, Maß und Takt liebende Volk, das jedes Zuviel verabscheut, zu Trinkern macht. Angeborenen Takt und Sensibilität atmete die ganze Erscheinung Nguyen Ai Quocs. Die europäische Zivilisation arbeitet mit Bajonetten und Schnaps, versteckt sie unter der Soutane des katholischen Missionars. Nguyen Ai Quoc atmet Kultur, nicht europäische Kultur, doch vielleicht die Kultur der Zukunft.

„Zur Zeit gibt es in Paris eine Gruppe von Genossen aus den französischen Kolonien — fünf bis sechs Leute aus Kotschinchina, dem Sudan, Madagaskar, Haiti — die kleine Zeitschrift 'Le Paria‘ heraus, die dem Kampf gegen die französische Kolonialpolitik gewidmet ist. Es ist wirklich nur ein kleines Blättchen — anstatt Honorar zu bekommen, zahlt jeder Mitarbeiter aus eigener Tasche für das Zustandekommen jeder Nummer.“

Ein Bambusrohr mit eingeritztem Aufruf ging unauffällig durch alle Dörfer. Man trug ihn von einem Ort zum andern, und die Übereinkunft kam zustande. Sie kam die Annamiten teuer zu stehen, es gab Hinrichtungen, Hunderte von Köpfen fielen.

„Das annamitische Volk hat weder Geistliche noch eine Religion im europäischen Sinn des Wortes. Ihr Ahnenkult ist ein rein soziales Phänomen. Es gibt keinerlei Priester. Das älteste Familienmitglied oder der Dorfälteste vollzieht die Gedächtniszeremonien. Wir kennen keine priesterliche oder geistliche Autorität.

Ja, es ist tatsächlich interessant, wie die französische Obrigkeit unseren Bauern die Wörter ,Bolschewik‘ und ,Lenin‘ beigebracht hat. Sie begannen, unter den Annamiten die Kommunisten zu jagen, als es noch keinen Schimmer von einem Kommunisten gab. So sorgten sie selber für die kommunistische Propaganda.“

Die Annamiten sind ein schlichtes und höfliches Volk. In der Vornehmheit seines Benehmens, in der gedämpften, matten Stimme Nguyen Ai Quocs ist das Morgen vernehmbar, die Ozeanstille weltweiter Brüderlichkeit.

Auf dem Tisch liegt ein Manuskript. Ein ruhiger, sachlicher Bericht. Im Telegraphenstil des Korrespondenten. Er phantasiert über das Thema: die Konferenz der Internationale. Er sieht und hört die Tagesordnung, wohnt allem bei, führt das Protokoll.

Beim Abschied erinnert sich Nguyen Ai Quoc an etwas: „Bei uns gab es noch einen Aufstand. Sein Anführer war der annamitische Kleinkönig Sjun-Tan. Er war gegen den Abtransport unserer Bauern zu französischen Blutbädern gerichtet. Sjun- Tan mußte fliehen, er lebt nun im Exil. Berichten Sie auch von ihm.“

Zuerst erschienen in der Zeitschrift 'Ogonjok‘, Moskau 1923, Nr. 39. Von Ralph Dutli aus der amerikanischen Ausgabe (Vol. II, 1971) übersetzt. Mit freundlicher Genehmigung des Ammann Verlages, Zürich, entnommen aus: Gesammelte Essays (1913 — 1935) in zwei Bänden. Übertragen und hg. von Ralph Dutli, zus. etwa 600 S., Leinen, ca. 96 DM. Erscheint demnächst.

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