: „Kampf in der Heimat, Krieg auf der Welt“
In der Türkei demonstrieren Zehntausende gegen einen Krieg am Golf/ Täglich setzen sich 200 Familien aus der irakischen Grenzregion ab/ Nur Beamte erhalten Gasmasken/ Meteorologen machen Mut: Ab 16.1. wird nur noch Nordwind wehen ■ Aus Istanbul Ömer Erzeren
Das Zentrum des Istanbuler Arbeiterquartiers Pendik, im Hintergrund die dunstige Silhouette einer Werft: Zehntausende Menschen haben die Sozialdemokraten für ihre Kundgebung „Nein zum Krieg“ auf diesem Platz, der durch das Marmara-Meer begrenzt wird, mobilisiert. „Kein Blutvergießen für die Interessen der USA und der Ölscheichs“ und „Nein zum imperialistischen Krieg“ steht auf Transparenten.
Die Parolen der Bergarbeiter in der Schwarzmeerstadt Zonguldak sind zum Marmara-Meer getragen worden. „Der Dicke im Präsidentenpalais ist ein Knecht der USA“, skandiert ein Zug in die Kundgebung einziehender Automobilarbeiter. „Nermin ist unter uns“, kündigt der sozialdemokratische Stadtverbandsvorsitzende Ercan Karakas an. Die 16jährige Nermin Alkan, die hier in Pendik wohnt und zur Schule geht, verbrachte Wochen hinter Gittern, weil sie ein „Nein zum Krieg“-Plakat in der Schule aufgehängt hatte. „Sie hatten die Schülerin verhaftet, weil sie Nein zum Krieg sagte. Nun sagen Tausende Nein zum Krieg“, spricht Karakas. Nicht der sozialdemokratische Parteichef, Erdal Inönü, der Redner der Kundgebung, erhält den stärksten Applaus, sondern die Sechzehnjährige.
Inönü doziert: „Staatspräsident Özal spielt Roulette mit dem Leben der Bürger. Wer Roulette mit dem Leben anderer spielt, sündigt. Der Ministerpräsident sagte, daß es in der Krise keine nationale Eintracht gibt. So ist es. Soll am Roulettetisch nationale Eintracht herrschen.“ Staatspräsident Turgut Özal, der sich im Golfkonflikt bedingungslos dem US- Kurs unterordnete, ist Hauptangriffspunkt der Kundgebung.
Inönü verweist auf den militärischen Aufmarsch gegen die Bergarbeiter. „Özal will mit Krieg die Sache der Bergarbeiter vergessen machen, er will die Rechte der Arbeiter vergessen machen.“ Die große Statue Kemal Atatürks mitten auf dem Platz bietet das richtige Ambiente für Inönüs Erinnerung an den Republikgründer: „,Frieden in der Heimat, Frieden auf der Welt‘, war Atatürks Devise. Özals Devise lautet: ,Kampf in der Heimat, Krieg auf der Welt.‘“
Inönüs Worte bewahrheiten sich nur wenige Stunden später. Nach Abschluß der Kundgebung bilden junge Leute einen „illegalen“ Demonstrationszug. Im benachbarten Kartal werden sie eingekesselt. Die Polizei gibt Warnschüsse ab, Dutzende werden durch Schlagstöcke und Fußtritte verletzt. Die Flucht der Geschwister Yadigar und Selma Coskun endet böse, die Polizei zerrt sie aus der fahrenden S-Bahn. Beide erleiden schwere Verletzungen nach dem Aufprall auf den Beton, Yadigar stirbt wenige Stunden später im Krankenhaus.
Der Tod der 22-Jährigen nach der Kundgebung am Sonntag ist eine Randnotiz der Zeitungen. Im staatlichen Fernsehen wird er gänzlich verschwiegen. Stattdessen bringt der staatliche Monopolsender aus den USA eingekaufte aktuelle Streifen. Denn Staatspräsident Özal gibt mit Vorliebe US-Sendern Interviews. Das türkische Fernsehen in den Hauptnachrichten: Staatspräsident Özal im Interview mit ABC, Staatspräsident Özal im Interview mit CNN: „Saddams Ende ist nahe“, „Saddam ist der letzte Diktator“, „Nixon hat recht, ein schlechter Frieden ist schlechter als Krieg“.
Nach dem Besuch von US-Außenminister Baker in Ankara am Sonntag scheint es klar, daß der größte US-Luftwaffenstützpunkt der USA im Nahen Osten, Incirlik, in einen Golfkrieg miteinbezogen wird. Niemand rechnet damit, daß von Anfang an eine zweite Front in der Türkei eröffnet wird. Doch die Nutzung Incirliks für „humanitäre Zwecke und logistische Unterstützung“ sei spätestens nach dem Baker-Besuch klar, heißt es dazu aus Regierungskreisen in Ankara. Baker selbst war Incirlik so wichtig, daß er die Nacht von Samstag auf Sonntag und den Sonntag vormittag in dem Militärareal Incirlik verbrachte.
In Kriegspanik verlassen Zehntausende Zivilisten die Grenzregion zum Irak, während Militärkolonnen anrücken. Seit Tagen bewegt sich die Wanderungswelle. Alle Busse und Flüge aus dem Gebiet sind in Richtung Westen ausgebucht. Die Fahrpreise der Fernbusse haben sich verdoppelt. „Jeden Tag verlassen 200 Familien die Stadt“, berichtet der Bürgermeister von Silopi. Die Hälfte der einst 50.000 Einwohner zählenden kurdischen Stadt hat der Region bereits den Rücken gekehrt. Die Situation in Cizre und Mardin ist vergleichbar gespannt, die täglichen Tiefflugübungen der türkischen Armee tragen ihren Teil dazu bei.
Viele derjenigen, die vor dem Krieg flüchten, finden keine Unterkünfte. Während Angst vor den chemischen Waffen grassiert, beschwichtigen die Verantwortlichen. Die Ämter für Zivilschutz teilten nur Beamten Gasmasken aus. „Völlig überflüssig, daß jeder Gasmasken will“, sagte der Direktor des Amtes für Zivilschutz in Mersin, dessen Telefonleitungen mittlerweile lahmgelegt sind. „Die Leute sollen zuhause bleiben.“
In der Hauptstadt Ankara gibt es statt Gasmasken amtliche Bedienungsanleitungen für das Überziehen der Schutzmasken. Die Einwohner der grenznahen Städte horten Lebensmittel. Als behelfsmäßiger Schutz vor chemischen Waffen werden Plastikplanen vor die Fenster gespannt. Empfehlung für den Ernstfall: Decken in Essig tauchen und Körper einwickeln. Der Bäckereiverband verweist stolz auf die Mehlbestände: „Es reicht für ein Jahr“. Die Meteorologen prophezeien günstiges Wetter: Ab 16.Januar wird ein Nordwind gen Irak wehen.
Ein ganzer kurdischer Stamm aus Ilica im Grenzgebiet ist gen Westen ausgezogen. Mit dem gemeinsam Ersparten kam das Dorf gerade 70 Kilometer weit. Jetzt hausen seine Bewohner in den verlassenen Läden der Fernstraße auf der E 24, wo einst die Öltanker vorbeidonnerten. Stammesführer Agit Koytan weiß, was Krieg bedeutet: „Der Krieg treibt immer die Armen ins Elend.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen