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Tausenden dient der Karton als Bett

Die Stadtverwaltung läßt im Winter die U-Bahn-Eingänge offen, doch für strukturelle Maßnahmen fehlen die Mittel  ■ Aus Madrid Antje Bauer

Auf einer Bank im Zentrum Madrids liegt ein unförmiges Bündel, ein riesiger Sack aus dreckigen Lumpen. Passanten eilen vorbei und sehen es nicht. Erst bei näherem Hinschauen stellt sich heraus, daß das Innere des Bündels lebt. Oben ragt ein kleiner, aufgedunsener Kopf heraus, von völlig verschmutzten Haaren umgeben. Wenn der Frauenkopf angesprochen wird, macht er erschreckte Augen und zieht sich wie eine Schildkröte wieder in den schützenden Panzer zurück. Neben ihrer Hülle, die sie gleichermaßen gegen sommerliche Hitze wie gegen die Kälte des Winters schützen soll, liegen ein paar Plastiktüten mit undefinierbarem Inhalt, aus dem sie sich gelegentlich etwas mit schweren Bewegungen in den Mund stopft. Den Tag verbringt sie unbeweglich auf einer Bank oder an einer Straßenecke stehend, wobei ihre Hülle sie aufrecht zu halten scheint. Sie bettelt nicht. Nachts legt sie sich in eine geschützte Ecke der Fußgängerzone. Der Panzer dient als Bett.

Die Frau in der Lumpenhülle ist kein Einzelfall. Tausende Obdachlose schlagen in der Madrider Innenstadt jede Nacht ihren Karton in einer Fußgängerunterführung, über einem U-Bahn-Lüftungsschacht oder in einem Ladeneingang auf. Morgens räumen sie zumeist ihre Schlafstätten, bevor sie vertrieben werden. Kartons und zerfledderte Matratzen warten den Rest des Tages in einer Ecke auf ihre Besitzer. Die verteilen sich über die Stadt: Manche setzen sich an belebte Straßenecken oder Fußgängerunterführungen und strecken den Passanten almosensuchend die Hand entgegen; auch die Eingänge von Kirchen sind beliebte Plätze. Andere klagen in U-Bahn- Waggons den Mitfahrenden ihr Leid und bitten um eine Spende. Viele verbringen den Tag auf einer Parkbank und gehen nur zwischendurch zu einer der katholischen Vereinigungen, die Armenspeisungen anbieten.

Obachlose hat es in Madrid schon immer gegeben. Während der Francodiktatur waren sie immer wieder von der Polizei eingesammelt und in Zellen gesteckt worden — Vagabundieren war verboten. Heute darf sie niemand mehr von den Straßen vertreiben, sie sind sichtbarer geworden. Aber auch mehr. In Zeiten des Wirtschaftswachstums und der Konsumgier haben die Familienbande nachgelassen, die für viele ein Netz waren. Alleinstehende Arbeitslose, die vor zwanzig Jahren noch bei einem Mitglied der Großfamilie untergekommen wären, müssen heute sehen, wo sie bleiben.

Drogenabhängige, deren Zahl stetig wächst, vergrößern die Schar der Obdachlosen. Ein Viertel aller Obdachlosen in Madrid ist heute jünger als 25. Menschen mit psychischen Problemen, die früher in die Psychiatrie eingewiesen worden wären, werden heute in die Obhut ihrer Familien gegeben, die mit ihnen häufig nicht umgehen kann und sie sich selbst überläßt. Doch auch das heftige Wirtschaftswachstum der vergangenen Jahre hat paradoxerweise die Zahl der Obdachlosen ansteigen lassen.

Die Preise für den Lebensunterhalt sind auf das Niveau westeuropäischer Industriestaaten gestiegen, und die Mietpreise in den Großstädten haben sich vervielfacht. Mieten in Madrid sind heute mit denen von München oder Paris vergleichbar. Die Löhne haben mit dieser Entwicklung nicht Schritt gehalten: Der staatlich festgesetzte Mindestlohn liegt bei umgerechnet 1.000 Mark, und selbst den erhalten viele Beschäftigte nicht, da sie gezwungen sind, ohne Vertrag zu arbeiten. Die Arbeitslosigkeit hingegen ist weiterhin hoch: Sie liegt bei knapp 18 Prozent. Folge dieser Schere ist das Anwachsen von Slums rund um Madrid sowie — für diejenigen auf der untersten Sprosse der sozialen Leiter — Obdachlosigkeit. Mit der Sozialhilfe von ca. 400 Mark, die im vergangenen Jahr in Madrid eingeführt wurde, läßt sich keine Wohnung mieten.

Nicht nur Madrilenen leben jedoch auf der Straße. Nach einer Studie der Caritas kommen jährlich 3.000 Menschen aus der Provinz nach Madrid, um dort Arbeit oder zumindest Almosen zu finden. Im Sommer wandern sie in die Erntegebiete, um dort zu arbeiten, oder sie suchen große Festlichkeiten wie die San Fermines von Pamplona auf, um dort zu betteln. Doch im Winter suchen sie in der Stadt ihr Auskommen. Zu ihnen gesellten sich in den vergangenen Monaten hunderte Schwarzafrikaner — illegal Eingereiste, die die Plätze der Innenstadt bevölkern und nachts auf Parkbänken schlafen.

Die Gemeinde von Madrid steht dem Problem weitgehend hilflos gegenüber. Ihr Obdachlosenheim San Isidro hat 250 Plätze. Die sind schnell gefüllt, und auch die konfessionellen Obdachlosenheime können nicht alle aufnehmen. Darüber hinaus weigern sich viele Obdachlose, sich der strengen Disziplin in diesen Zentren zu unterwerfen. Für sie hat die Gemeinde nun im Rahmen der alljährlichen „Operation Frost“ mehrere U-Bahn-Eingänge geöffnet, in denen sie nachts schlafen können. Zu strukturellen Maßnahmen — wie etwa der Schaffung von Arbeitsplätzen — fehlen der Gemeinde die Mittel. Und zu einer Verhinderung der Spekulation mit Wohnraum fehlt der politische Wille.

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