: Gorbatschow droht, aber fordert zugleich Dialog
■ Der sowjetische Präsident setzt auf Gespräche — aber nur im Rahmen der Unionsverfassung/ Anmaßender Auftritt der Konservativen im Obersten Sowjet/ Politischer Streik sibirischer Bergarbeiter beschlossen/ Litauen polarisiert die Presse
Moskau (taz/ap/adn) — Kaum noch Herr seiner Emotionen war Präsident Gorbatschow am Dienstag, als er vor dem Obersten Sowjet auf Jelzins Überlegung reagierte, eigene russische Streitkräfte aufzustellen. Jelzins Erklärung verletze die sowjetische Verfassung „aufs Gröblichste“. Sie liefere „zusätzliches Konfrontationsmaterial für die bis zur Weißglut angefachte Lage im Land“. Gorbatschow weiter: „Ich verurteile diesen Akt als durchdachte politische Provokation, die nicht zur Konsolidierung beiträgt, sondern zur Meinungskonfrontation, zum Kampf und zur Aufwiegelung“. Gorbatschow gab der Hoffnung Ausdruck, daß sein Gegenspieler „noch nicht ganz von der Vernunft verlassen“ sei, und Jelzin — Selbstkritik übend — seinen Vorschlag zurückzieht.
Gorbatschow forderte die Regierungen der baltischen Staaten auf, die Ursachen der Krise nicht bei der sowjetischen Führung, sondern bei sich selbst zu suchen. Schließlich seien sie es gewesen, die durch Wort und Tat die Verfassung der Sowjetunion verletzt hätten. Der sowjetische Präsident sprach sich für Verhandlungen mit den baltischen Regierungen aus, erklärte aber gleichzeitig den Dialog für schwierig, wenn die baltischen Staaten nicht an den Beratungen des Föderationsrats teilnähmen. Über sein Gespräch mit Landsbergis am Montag sagte er, es sei schwer zu verhandeln, solange „solche Leute“ an der Macht seien. Selbst diese Position Gorbatschows, die eine Aufgabe der baltischen Rechtspositionen zur Voraussetzung des Dialogs macht, fand nicht die Zustimmung der Ultras. Oberst Petruschenko unterbrach den Präsidenten, als dieser von der Notwendigkeit sprach, über die Entwaffnung der baltischen Freiwilligenverbände zu verhandeln. „Keine Verhandlungen“ rief er, „die Banditen müssen sofort entwaffnet werden“.
Jelzin selbst blieb angesichts der Attacken ungerührt. Gegenüber den Botschaftern skandinavischer Länder erklärte er, Rußland werde nicht gleichgültig verharren, sondern in Aktion treten, wenn die Anwendung von Gewalt in den baltischen Staaten weitergehe.
Tatsächlich in Aktion traten die Kumpel des Kusnezker Kohlereviers in Sibirien. Sie beschlossen am Dienstag einen unbefristeten politischen Streik ab kommenden Freitag. Hauptforderung der Arbeiterkomitees ist der Rücktritt Gorbatschows. In ihrer in Nowokusnezk verabschiedeten Erklärung fordern die Bergleute eine Untersuchung der „tragischen Ereignisse in Litauen“ und den Abzug der sowjetischen Streitkräfte aus den baltischen Republiken.
In Moskau berichteten die demokratisch eingestellten Tageszeitungen in großer Aufmachung über das blutige Einschreiten der Sowjettruppen in Vilnius und über die Protestdemonstrationen, die in mehreren Städten Rußlands stattgefunden hatten. Die 'Komsomolskaja Prawda‘ traf den Grundton mit der Feststellung, „die Ereignisse in Litauen sind der erste offene Schritt zur Diktatur. Es zählt schon jetzt nicht mehr jeder Tag, sondern jede Stunde. Morgen kann es bereits zu spät sein.“ Die 'Moskowskije Nowosti‘, die am Mittwoch mit Trauerrand erschien, schrieb: „Am Blutsonntag ist die Demokratie erschossen worden.“ Das Reformblatt rief zu Massenprotesten für nächsten Sonntag auf. Die Parteizeitungen hingegen überboten sich im Ruf nach Errichtung des Präsidialregimes für die baltischen Republiken. Die 'Sowjetskaja Rossija‘, Organ der russischen Kommunisten, druckte das Ultimatum der litauischen „Nationalen Rettungsfront“ an Regierung und Parlament Litauens, zurückzutreten bzw. sich aufzulösen. Dieses Ultimatum war von dem geschaßten sowjetischen Innenminister Bakatin der Aufmerksamkeit des Staatsanwalts empfohlen worden. Für Bakatin ist die „Rettungsfront“ eine kriminelle Organisation.
Mehr als 100.000 Litauer säumten gestern die Straßen von Vilnius, als die Särge von 10 der 14 Opfer der sowjetischen Besetzungsaktion von der Sporthalle zum Dom getragen wurden. Vor dem Parlament harrt noch immer eine große Zahl von Demonstranten aus, um das Gebäude zu schützen. Diesem Ziel soll auch ein an der Rückfront des Parlaments ausgehobener Wassergraben und eine Mauer dienen, die vor dem Haupteingang aus Zementblöcken errichtet worden ist. Präsident Landsbergis hat es als nützlich bezeichnet, daß bei den Verhandlungen mit der Delegation des sowjetischen Föderationsrats auch hohe Offiziere anwesend gewesen seien. Militärs des Generalstabs und des Verteidigungsministeriums, so General Warennikow und der Chef der im Baltikum stationierten Truppen, Kusmin, schloßen gegenüber Landsbergis bzw. seinem lettischen Kollegen Gorbunow jede militärische Aktion mit dem Ziel, die Parlamente und Regierungen zu beseitigen, aus. Die Stationierung von Sondereinheiten der sowjetischen Sicherheitskräfte an der polnisch-litauischen Grenze paßt schlecht zu diesen Zusicherungen. Offenbar soll einer litauischen Flüchtlingswelle im Gefolge erneuten militärischen Eingreifens vorgebeugt werden. Christian Semler
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