Rund um die Barrikaden von Riga

Die Menschen in Riga haben die Angst verloren/ Noch ist es ruhig, aber dem Frieden traut keiner/ Seltsame Geschäfte der „Schwarzen Barette“/ „Unsere einzige Waffe ist unser starker Glaube an den Sieg der Unabhängigkeitsbewegung“  ■ Aus Riga Klaus-Helge Donath

Der Taxifahrer zögert. Schon der vierte, der es ablehnt, zum Fernsehzentrum außerhalb der Stadt zu fahren. Erst der dreifache Preis stimmt ihn um. Aber dennoch: „Nur in die Nähe ...“ Ihm sei es zu gefährlich dort draußen. Warum? Dazu möchte er nichts sagen.

An der Brücke über die Düna, die hinüber zur Fernsehinsel Lozavsala führt, ist erst einmal Schluß. Bulldozer und Lkws blockieren die Fahrbahn. Das schmale Schlupfloch kontrollieren Letten, junge und alte. Sie sind unbewaffnet. In ihren Gesichtern steht nichts Martialisches. Nach dem Gemetzel in Vilnius taten sie sich spontan zusammen, um einen möglichen Vorstoß der Spezialeinheiten des sowjetischen Innenministeriums aufzuhalten. Ganz Riga haben sie in den letzten Tagen verbarrikadiert und alle Zufahrtsstraßen geschlossen. Wie lange sie sich widersetzen könnten? Darüber macht sich hier kaum einer Illusionen. „Ein paar Stunden, vielleicht ein paar Tage.“

Es ist Mitternacht. Doch hinter der Brücke dämmert es schon wieder. Denn um Hunderte von Feuern biwakieren einige Tausend Menschen. Sie wollen den Fernsehturm gegen Übergriffe schützen. Seit Tagen campieren sie hier. „Wenn die Truppe ein strategisches Ziel hat, dann zuerst den Fernsehturm“, meint einer der Ordnungskräfte mit weißer Armbinde. Die Befürchtung kommt nicht von ungefähr. Am 2.Januar hatte eine Spezialeinheit der Polizei für innere Sicherheit, auch hier 'Black Berets‘ genannt, das Pressehaus Riga im Handstreich gestürmt. Dahinter stecke die KP Lettlands, vermutet der Rigaer Innenminister, Aloisz Vaznis. Die Partei habe die Truppe angemietet, um mit ihrer Hilfe die Besitzfrage zu „klären“. Eigentlich unterstehen die Einheiten dem Innenministerium Moskaus. Eine Antwort, ob sie auf Geheiß der Zentrale gehandelt hätten, blieb das Innenministerium bis dato schuldig. Dubiose Praktiken kamen schon im Oktober ans Licht, als die Eingreiftruppe kurzerhand eine private Kooperative gründete und ihre „Schutzdienste“ Restaurants, Spielhöllen und der Mafia feilbot. Sogar ein Vertrag mit dem lettischen Generalstaatsanwalt folgte. Dann begann das Ausheben neuer Mitarbeiter.

Inzwischen hat ihnen der Oberste Sowjet den Polizeistatus aberkannt. Das hindert sie aber nicht, das Pressehaus weiter besetzt zu halten. Vaznis sieht darin eine bewußte Provokation. Um ein Blutvergießen zu vermeiden, das Moskau den Anlaß liefern könnte, das Präsidialregime zu verhängen, hat der Innenminister jedoch nichts unternommen. Zeitungen erscheinen seither nur noch in Notausgaben, denn viele Journalisten weigern sich, mit Kalaschnikows im Rücken zu schreiben.

Auch der Freiheitsboulevard hat sich in eine Wehrburg verwandelt: 'Zig tonnenschwer beladene Holzschlepper, Kipplaster mit Zementblöcken und Traktoren verrammeln in drei Reihen den Zugang zum Ministerratsgebäude. Viele von ihnen zieren Transparente: „Soldat! Denk dran! Vergießt du Blut, ist die Schande ewig!“. Auf dem baumgesäumten Mittelstreifen der Flanierstraße warten Hunderte an Lagerfeuern auf den Moment, der ihnen Klarheit geben möge. In der Luft steht ein Gemisch aus Brandpartikeln und Dieselabgasen. Lkws und Busse lassen ihre Motoren laufen: zum Aufwärmen und Schlafen für die Leute, die sie aus der Provinz hierhergebracht haben. Immer wieder treffen neue Busladungen ein.

Zur Zeit soll gerade eine Delegation aus Moskau in der Stadt sein. Keiner weiß recht, was eigentlich verhandelt wird.

Dennoch kleben alle wie gebannt zur vollen Stunde an ihren Transistorradios der Marke „Iliuma“. Nichts Neues diesmal von 'Radio Riga‘, nichts Neues aus Moskau. Weder Erleichterung noch Schrecken. Indes wird vom Balkon des Rundfunkhauses am Marktplatz an die Bevölkerung appelliert, Heizkörper und Decken in die großen Kirchen zu bringen, die gerade zu Notlazaretten hergerichtet werden.

Ein alter Mann, beide Hände hat er im Krieg verloren, spricht aus, wozu viele und nicht allein die Alten entschlossen sind: „Ich bleibe sitzen, wenn die Panzer kommen!“ Lange Zeit hätten sie Angst gehabt, meint einer um die Vierzig. „Aber seit den Ereignissen in Vilnius ist sie verflogen. Jetzt wissen wir, was die Freiheit kosten kann.“ Trotz aller Entschlossenheit, bei den Jungen zumindest währt wohl die leise Hoffnung auf eine doch noch friedliche Lösung ihrer Todesverachtung. Zwischendurch wird wieder eine neue Fuhre Brennholz abgeladen. Rund um die Gulaschkanone herrscht gute Stimmung, kein bißchen Resignation noch Traurigkeit. Manchmal hat es sogar den Anschein eines Volksfestes. Und in der Tat, das bestätigt das Akademiemitglied Aivars Tarvids, „hat die Bedrohung von außen die Solidarität unter den Letten wieder gestärkt“. Auch die Russen, deren Anteil in Lettland bei über 40 Prozent liegt, sehen in letzter Zeit einiges anders. „Dazu hat das Moskauer Fernsehen mit seiner Desinformation über uns beigetragen.“ Und noch am selben Abend kündigen deswegen zwei Redakteure dem sowjetischen Fernsehen ihre Mitarbeit auf. Ein Beweis für einen gewissen Wahrnehmungswandel sei die Demonstration der russischen „Interfront“ gewesen, die Anfang der Woche nur 5.000 Leute gegen die lettische Regierung mobilisieren konnte. Der Streit geht um die Preise. Sieben Mal wurden sie seit vergangenem Jahr erhöht. „Die Russen wollen nicht einsehen, daß das notwendig ist, um aus dem Übel herauszukommen. Bei uns Letten ist das anders“, meint Tarvids. Aber unüberwindbare Spannungen mit den Russen? Nein, die gebe es nicht, „das ist Propaganda“.

An einer Barrikade in den engen Gassen der Altstadt, hinter der Schüler und Studenten stehen, hängt ein Plakat: „Russische Mitbürger, wir stehen hier auch für eure Freiheit — gegen Kommunismus und Militarismus!“ Nach Estland hat auch Lettland einen Kooperationsvertrag mit Jelzins Russischer Föderation geschlossen. „Ein kleiner Hoffnungsfunken und moralische Unterstützung“, so die einhellige Meinung, doch bisher überwiegt die Skepsis. Da nützt auch Jelzins Appell an die sowjetischen Soldaten im Baltikum nichts, auf unbewaffnete Zivilisten nicht zu schießen — er klebt an allen Bäumen und Häuserwänden. Die letzte Rede des Präsidenten vor dem Obersten Sowjet der Union löste Bestürzung aus: „Wer schießt denn hier auf sowjetische Soldaten und wo haben wir Arbeiter und Bauern gegen uns aufgebracht, wie Gorbatschow behauptet? Wer schürt hier eigentlich das Feuer?“ Kaum hörbar flüstert eine Frau: „Er lügt, er lügt.“ An einem Bauzaun in der Altstadt prangt ein Gorbatschow-Bild. Der Nagel, der es hält, ist dem Präsidenten durch die Stirn getrieben. Und einige Meter weiter daneben hat der Generalsekretär sich einen Bart wachsen lassen und seinen Namen gewechselt. Hier ruft man ihn jetzt „Saddam G.“