Deserteur in Deutschland — ein Leben lang Außenseiter

Stefan Harder hatte großes Glück: Er überlebte im Nationalsozialismus sein Todesurteil als Deserteur/ 1947 muß er sich in Ost-Berlin sagen lassen, Desertion sei nicht Widerstand gewesen/ In Düsseldorf erkämpft er sich später eine „Entschädigung von fünf Mark pro Tag in der Todeszelle“  ■ Von Bernd Müllender

„Sollte das deutsche Volk, wie einst behauptet, wirklich einer eigenen Rasse angehören, dann muß die absolute Unfähigkeit, die Leiden der Opfer eigener Verbrechen zu begreifen, ein besonderes Rassemerkmal sein. Das deutsche Volk, welches das Kriegsende nicht als Befreiung vom Nazismus, sondern als bedauerliche militärische Niederlage empfindet, wird die Wehrmachtsdeserteure auch weiterhin für die Niederlage mitverantwortlich machen. Wäre dies tatsächlich der Fall gewesen, ich wäre stolz darauf, einen solchen Beitrag geleistet zu haben.“ (Stefan Harder, Deserteur)

Es ist ein langer Schlußapplaus, der tief berührt. Die minutenlangen Ovationen der ZuhörerInnen in dem kalten Raum eines Aachener Bunkers gelten einem kleinen alten Mann auf dem Podium. Zwei Stunden hat er von seinem Schicksal als Deserteur erzählt, als jahrelang Umherirrender im Europa des Zweiten Weltkrieges, später als Gefangener, Gedemütigter, als Todeskandidat. Zum ersten Mal in seinem nunmehr 71jährigen Leben in der Öffentlichkeit, fast ein halbes Jahrhundert nach allem, was passiert war.

„Manchmal klingt es ein bißchen wie Schwejk, nicht wahr?“, schiebt der Deserteur Stefan Harder zwischendurch mal über eine Episode seiner waghalsigen Flucht ein. Einige im Publikum haben gelacht, nur für einen Moment und, zurecht, sehr vorsichtig. Augenblicke später erzählt Harder aus den langen Monaten der Gefangenschaft im Barackenlager Börgermoor im Emsland. Wie er sich einmal, abgemagert und ausgehungert, über einen Schweinefuttertrog hergemacht hat, wie wundervoll das schmeckte. „Eine Delikatesse“, sagt er und schildert den Gipfel des Erfolgs: „Kurz bevor ich wieder abkommandiert wurde, habe ich fürs Abendbrot noch schnell mit beiden Händen eine Ladung unter meine Häftlingsmütze gestopft.“

Harder ist im Mai 1942 von der Fahne gegangen. In Weißrußland muß er als 23jähriger Wehrmachtsfunker eine Massenerschießung von 2.000 Juden miterleben. „Da habe ich mir gesagt: Nein, nicht mit mir. Nicht in meinem Namen. Wissen Sie, ein sogenannter Kamerad sagte mir noch, das werde alles besser, in Zukunft werde man die Juden humaner töten, mit Spritzen.“

Entsetzt und angewidert beschließt Harder, „die Schanduniform auszuziehen“, streift ziellos umher, bis er das Vertrauen einer polnisch-litauischen Partisanenorganistion findet. Als einziger Deutscher und einziger Deserteur hilft er fast ein Jahr lang mit, geflohene sowjetische Kriegsgefangene und Juden zu verstecken. „Wir haben im Untergrund gewartet und waren verzweifelt: Was sagt die Kirche, was der Papst? Der Papst schwieg. Und das Internationale Rote Kreuz schwieg auch.“

Harder bekommt den Auftrag, Kontakt zum IKRK (Internationalen Komitee vom Roten Kreuz) in Genf herzustellen. Er schildert seinen Weg quer durch das „Reich“ in einer geklauten Eisenbahneruniform, listig, aber immer in Angst. In Freiburg, „so schrecklich kurz vor der Grenze“, nehmen ihn im Frühjahr 1943 zwei Kripo-Häscher fest.

Das Berliner Reichskriegsgericht verurteilt Stefan Harder wegen Desertion zum Tode. „Nach der Verhandlung sagt der Richter zu mir, auf dem Tisch sitzend und dabei so mit den Beinen herumbaumelnd: Mensch, Sie waren doch schon weg, warum haben Sie sich denn erwischen lassen?‘“

Rauh und krächzend spricht Stefan Harder. Ein Stimmband, entschuldigt er sich, sei durch den Krieg gelähmt, zudem die Wirbelsäule kaputt; lange sei er krank gewesen. Jetzt habe er gerade zwei Schlaganfälle hinter sich. Seine Schilderungen aber sind glasklar und pointiert, analytisch wie anekdotisch und nicht zu einer von der langen Zeit gestrickten Legende geworden.

Stefan Harder ist ein Mann, der den Nadelstreifenanzug nur zu ganz besonderen Anlässen wie diesem trägt, der sich auf der kleinen Bühne des renovierten Bunkers an Stock und Hut festzuhalten scheint und den Mantel anbehält, als wolle er jederzeit flüchten können von diesem erinnerungsträchtigen Ort der Naziherrschaft und aus der ihm ungewohnten Rolle als Hauptperson vor Publikum. Daß Harder überhaupt gekommen ist, ist eigentlich ein Zufall. Die Veranstalter einer Kunstausstellung über Deserteure haben seinen Namen und die Adresse quasi vor der Haustür erst tags zuvor erfahren. Spontan hat er zugesagt.

Nach unzähligen Tagen in der abgeschotteten Todeszelle wird Harders Strafe auf ein Gnadengesuch von Verwandten hin — „warum, habe ich nie verstanden“ — in 15 Jahre Zuchthaus umgewandelt. Ein seltenes Glück. Hitler hatte in Mein Kampf Klartext geschrieben: „An der Front kann man sterben, als Deserteur muß man sterben.“ Ihren Kopf retten konnten fast nur die Deserteure, die noch kurz vor Kriegsende die Flinte ins Korn warfen — aber auch von ihnen nicht alle. „Ich bin“, sagt Harder, „auf dem Höhepunkt der Macht von der Fahne gegangen, nicht erst 44 oder 45, als die Niederlage abzusehen war. Den Offizieren vom 20.Juli unterstelle ich, daß sie nur eine weiße Weste behalten wollten, um nachher bei der Abrechnung gut dazustehen.“

Im „Kriminellen-Bataillon“ 500 soll Harder sich bewähren. Er erzählt vom Frühjahr 1945. Im schlesischen Cosel hat seine Kompanie den Auftrag — in vorderster Front — den Vormarsch der Roten Armee aufzuhalten. Er rettet einen schwerverletzten russischen Soldaten, zieht ihn aus dem Feuerhagel hinter die deutschen Linien. „Da hätten Sie mal die deutschen Soldaten sehen sollen. Diese Bestien, dieser Haß. Alles Schwerverbrecher, die wußten, daß sie hier verheizt werden sollten. Aber das waren die fanatischsten.“ In der folgenden Nacht desertiert er erneut.

Listenreich, mit seinen polnischen Sprachkenntnissen gut getarnt, kommt er bis Lodz. Polnische Miliz nimmt ihn fest, Harder kann erneut fliehen. Offiziere des KGB überraschen ihn, wieder entkommt er. Tage später wird er wiederum von Russen erwischt. Das deutsche Todesurteil in seiner Brusttasche hilft — statt ins ukrainische Arbeitslager wird er in eine Kaserne der Roten Armee gesteckt. „Da habe ich dann“, und da spricht wieder der Schwejk aus ihm, „erstmals militärische Karriere gemacht. Ich wurde zum Stubenältesten ernannt.“

Und Harder machte, wie er mit verschmitztem Stolz erzählt, „das Gesellenstück in Gefangenschaft“. Dem russischen Lagerverwalter habe er zwei Zuckersäcke geklaut, um sie dann „ganz naiv, ganz freundlich“, dessen Ehefrau in der Feldküche gegen Brot, Speck und Zigaretten einzutauschen. Mit diesem Proviant ausgestattet, haut er erneut ab.

Ins Amtszimmer des Innenministers gestürmt

Die Desertion hat Stefan Harders Leben als Einzelgänger, Outsider, bis heute bestimmt. 1947 in Ost-Berlin wird ihm die Fortsetzung seines Vorkriegsstudiums in Politologie an der Humboldt-Universität „wegen meiner bürgerlichen Herkunft“ verweigert.

Wiedergutmachung? Er selbst habe doch keine Juden erschießen müssen, fragen ihn die Deutschen im SED-Staat, warum er da desertiert sei? Das sei ja nicht mal Widerstand, und im KZ habe er auch nicht gesessen. „Mein Gott, habe ich gedacht, die gleichen Menschen wie bei den Nazis, nur unter anderer Fahne.“

In Düsseldorf, Jahre später, ist er, „weil diese Behördenhengste mich nicht als politisch Verfolgten anerkennen wollten“, gleich zum Innenminister persönlich ins Amtszimmer vorgestürmt. Dreistigkeit siegt auch hier. Harder wird als Gewissenstäter anerkannt, erhält als „Entschädigung“ fünf Mark pro Tag in der Todeszelle und eine kleine Rente.

Eine bürgerliche Existenz bleibt Stefan Harder weiter verwehrt. Durch Gelegenheitsjobs als Hotelportier, Messehelfer und Kleingewerbetreibender „für Teppichreiniger und Schuhwichse und so Sachen“ kommt er in den 50er Jahren nach Aachen. Die Zeitungen, so glaubt er, könnten sich für seine Erlebnisse interessieren. „Die Redakteure waren auch sehr neugierig, aber ihren Lesern, sagten sie, könnten sie so was nicht zumuten.“ Einmal pöbelt ihn ein betrunkener Polizist an, einen Feigling wie ihn habe man wohl vergessen zu vergasen, worauf ihn Harder niederschlägt und vor Gericht gestellt wird. In der Nachbarschaft seiner kleinen Wohnung in einem Aachener Arbeiterviertel muß er sich anpassen oder Außenseiter bleiben. „Mit Freunden kann ich saufen, zocken, rauchen. Aber von unserer Vergangenheit, insbesondere unser aller Militärzeit, will keiner mehr etwas hören. Das ist tabu.“

Harder ist immer Junggeselle geblieben. „Auf dem Rücktransport von Freiburg 1943 wollte eine Rot- Kreuz-Frau in Berlin nur meinen beiden Aufpassern eine Suppe geben“, erzählt er dem Aachener Publikum. „ ,Wat, der is desertiert, ein Verbrecher? Der kricht bei mir nüscht‘“, habe die Helferin gesagt. „Da sind die beiden Soldaten, obwohl auch sie total ausgehungert waren, aufgestanden und mit mir weggegangen.“

Die tiefe Verachtung für die Suppenköchin hört man Harder noch heute an. Aber gleich dreht er den Dreh ins Skurrile: „Ich wußte, was ich von den deutschen Frauen zu halten habe. Und deswegen“, einen Moment lang lächelt der kleine Mann ein bißchen kokett, „habe ich nie geheiratet.“ Meint er das ernst? Einige Zuhörer bemühen sich um ein Lächeln.

„Alles in mir ist wieder aufgewühlt worden“

Von einem Denkmal für den Unbekannten Deserteur hält Harder nicht viel, weil Schicksale wie seines und der vielen anderen doch immer nur Minderheiten interessierten. Das sagt er denen, die sich für ein solches Mahnmal einsetzen. „Aber wenn“, räumt Harder ein und zeigt in den Ausstellungsräumen auf eine Installation des Aachener Designers Eugen Rother, „dann so etwas: Ein Strick, an dem ein Paar Wehrmachtsstiefel baumeln, dahinter das Schild ,Ich bin ein Feigling‘. Genau das: schlicht, konkret, und der ausgelöschte Mensch fehlt.“

Harder wundert sich nicht, daß vielerorts Deserteursdenkmäler auf Ablehnung in den etablierten politischen Parteien stoßen. „Auch die sogenannten Helden waren doch immer Herdenvieh — erst Wehrmacht, weil sie angeblich mußten, dann russisches Lager, bejubelte Rückkehr, Karriere im Beruf, in CDU oder SPD, und dann haben sie ihr Leben lang ihre verlorene Jugend bejammert und wollen nur vergessen.“

Verbittert ist Stefan Harder nicht. Er beklagt sich nicht und klagt nicht an, daß Menschen wie er bis heute nicht gewürdigt worden sind. In Vergessenheit weiterzuleben hat auch sein Gutes. Die Tage nach der Veranstaltung im Bunker, sagt Harder später, seien hart gewesen für ihn. „Alles, all das gelebte Leid, ist wieder so aufgewühlt worden in mir.“

Sein Hausarzt habe ihn im Bericht der Lokalzeitung erkannt. So, wie Stefan Harder dies erzählt, klingt es, als sei es beiden nicht recht gewesen. „Vielleicht aber“, hofft er, hat wenigstens jemand von den Zuhörern etwas verstanden. Aber mit dem einen Mal soll es genug sein. Die zwei, drei Jahre, die mir noch bleiben, will ich in Ruhe verleben. Meine Geschichte ist ja nichts Einmaliges, das haben Tausende von Menschen erlebt.“

Hunderttausend waren es etwa, nach neueren Schätzungen, die in brauner Zeit den grauen Rock auszogen. Über 30.000 wurden erwischt und hingerichtet. Die meisten Überlebenden haben ihr Leben lang geschwiegen, aus Angst und Scham. Und auch Stefan Harder möchte nicht, daß sein richtiger Name genannt wird.