: »Wir hatten eine unheimlich erotische Beziehung«
■ Der Lebenspartner eines an Aids Verstorbenen erzählt von seinen Erfahrungen mit der unerbittlichen Chronologie der Krankheit
Irgendwann im Sommer 1979 zieht der 19jährige Denis* aus Niedersachsen nach Berlin. Ein Jahr später kommt Erik*, damals 21, von Köln nach Berlin. Denis beginnt ein Architekturstudium, Erik immatrikuliert sich für Design. Die beiden leben, ohne sich zu kennen, nur wenige Häuser voneinander getrennt in einer ruhigen Wohnstraße in Schöneberg. Jahre später lernen sie sich kennen, verlieben sich, werden ein Paar. Am 1. April 1988 stirbt Erik 29jährig im Auguste-Viktoria-Krankenhaus an den Folgen von Aids. Er ist einer von inzwischen 534 Menschen, die in Berlin bis heute an der Krankheit gestorben sind. Denis ist einer von mehreren tausend Berlinern, die die unerbittliche Chronologie der Krankheit als Lebenspartner oder Angehörige miterlebt haben. Im Rahmen der Serie »Leben mit dem Virus« sprach die taz mit Denis über diese Erfahrungen, über Leben, Liebe, Tod und Aids.
Kennenlernen
Manchmal sahen sich Denis und Erik im Supermarkt beim Einkaufen. Gelegentlich auch auf Uni-Feten. Erik amüsierte sich von seinem Balkon aus immer ein wenig darüber, wie eifrig sein Nachbar mit langen Papierrollen unter dem Arm zu den Architekturseminaren lief.
Es war im November 84, eigentlich ein ziemlich beschissener Tag. Ich wollte im Stadtbad Wilmersdorf schwimmen gehen, aber die hatten schon zu. Ich dachte, was machste jetzt, und bin dann zum ersten Mal in eine schwule Sauna gefahren. Dort sind wir uns über den Weg gelaufen, haben uns angesprochen und an die Bar gesetzt, über die Uni und so geredet. Später am Abend sind wir ein Bier trinken gegangen. Erik hat mich gefragt, ob ich mit zu ihm in seine Wohnung komme. Später hat er mir dann einmal erzählt, daß er sich zuerst im Auto gar nicht getraut hat, mich zu fragen. Er hatte Angst, einen Korb zu kriegen. Das war unsere erste gemeinsame Nacht.
Eigentlich war er nicht mein Typ. Das wußte er auch. Ich steh' eigentlich mehr auf südländische Typen. Dunkle Haare, braune Augen. Er war genau das Gegenteil: Er hatte total blonde Haare und blaue Augen. Aber eigentlich ein total schöner Mann. Ein bißchen größer als ich, schlank. Ein Mann, auf den viele Leute abfahren. Eigentlich so ein Hans Dampf in allen Gassen, ein sehr attraktiver Mann.
Danach haben wir uns wiedergetroffen. Einmal die Woche etwa. Zu Anfang war das ziemlich einseitig: Ich war total verknallt in den, und er hat mich öfters einfach beiseite geschoben und warten lassen. Auf deutsch gesagt, ich kam mir manchmal nur wie ein besseres Fickverhältnis vor. Heute würde ich da sagen, das läuft nach meiner Fasson — oder eben gar nicht. Er war aber damals viel weiter als ich.
Er war Löwe, ich bin Krebs. Er ist schon so ein stolzer Gockel. Majestätisch, wie so ein Löwe halt ist. Arrogant? — Ja. Das haben viele gesagt. Obwohl nein — selbstbewußt. Und das war das, was mir selbst damals absolut gefehlt hat. Eigentlich merke ich jetzt, daß ich durch diese Beziehung wesentlich selbstsicherer geworden bin. Ich habe meiner Mutter dadurch schon zu Weihnachten 84 erzählt, daß ich schwul bin.
Hobbies? Erik? — Malen vielleicht, Männer... Er war in bezug auf Leute und Sex schon sehr offen. Zusammen mit seinem besten Kumpel hat er Strichlisten über Männer gemacht, die sie hatten.
Beziehung
Mit Erik hat es eine ganze Weile gedauert, bis das eine Beziehung war. Es dauerte beispielsweise ein gutes halbes Jahr, bis er seine Freunde mir bekannt gemacht hat. Die sollten erst gar nichts mitkriegen. Das war eine ziemliche Unverschämtheit, so nach dem Motto, daß ich seinem Bekanntenkreis nicht gewachsen sei.
Italien
In den Semesterferien sind wir dann für vier Wochen nach Italien in den Urlaub gefahren. Insgesamt war das eine sehr tolle Fahrt: mit dem Auto durch die Toskana, dann bis Rom runter, dann auf die andere Seite, auf einen Campingplatz. Wir hatten eigentlich eine unheimlich erotische Beziehung. Also, so ziemlich häufig Sex. Dabei lebten wir uns damals mehr und mehr zusammen. Bis zu diesem Urlaub war die Beziehung schon sehr chaotisch gewesen. Von seiner Seite aus. Mir war zwar klar, daß ich ihn liebe und daß ich eine feste Beziehung mit ihm haben möchte. Mit Erik bin ich dann auch erstmals so richtig in schwule Kneipen gegangen. Zuvor war ich höchstens ganz selten mal irgendwo ein Bier trinken, saß da aber mehr so als Rühr-mich- nicht-an herum.
Eifersüchtig
Einmal bin ich abends mit dem Motorrad am Parkplatz von der Sauna vorbeigefahren und hab' ihn gesehen. Das war ihm unheimlich peinlich, daß ich ihm begegnet bin. Ein anderes Mal bin ich morgens zur Uni gegangen und er kam gerade mit seinem Auto um die Ecke gebogen. Er kam von einem Typ, das war ihm dann auch peinlich.
Kann sein, ich wollte das gar nicht wissen, was er mit anderen so treibt. Ich war aber auch eifersüchtig. Das war vielleicht mein Fehler, daß ich nie den Mund aufgemacht habe. Mit gleicher Münze habe ich ihm die Seitensprünge nicht heimgezahlt. Ich bin für so etwas nicht der Typ.
Wir haben zusammen Sport gemacht. Bodybuilding. Bei mir hatte das mehr durchschlagende Wirkung. Nach einem jahr hatte ich zehn, zwölf Kilo zugelegt. Das hat ihn unheimlich gewurmt, daß es bei mir besser anschlug. Er war immer gefrustet, wenn ich in irgendwelchen Dingen besser war.
Der verbrannte Daumen
Im Frühjahr 86 finden Erik und Denis eine große Altbauwohnung in Ku'dammnähe und ziehen dort zusammen mit einer Freundin ein. Ein Jahr später schließt Denis sein Studium ab, beginnt seinen ersten Job. Erik trödelt an der Uni herum, ist oft niedergeschlagen, häufig krank.
Erik war zwei Semester unter mir. Er hat das Studium immer anders gesehen als ich. Er war ein Typ, der konnte unheimlich gut zeichnen, unheimlich toll malen. Er hatte aber nicht so ein Interesse am Studium. Er hatte auch immer genug Geld: Wenn's mal alle war, hat er halt zu Hause angerufen, daß er noch mehr braucht für diesen Monat. Er hätte vielleicht einmal gar nicht arbeiten müssen. Seine Eltern sind sehr wohlhabend.
Aids war eigentlich immer ein Thema. Der Test wurde aber nie gemacht. Ich habe das zwar irgendwann einmal angesprochen, ob wir nicht zusammen zum Test gehen sollten — aber Erik hat es strikt abgelehnt.
Eigentlich war das eine ganz blöde Geschichte: Bei einem Konzert von Georgette Dee wollte er sich eine Zigarette anmachen und packte dann das Zündholz in die Schachtel zurück. Die flammte dann auf und er verbrannte sich den Daumen. Die Wunde verheilte wochenlang nicht. Er ging zu mehreren Hautärzten. Die einen meinten, es wäre ein Pilz auf der Wunde, die anderen tippten auf Bakterien. Im Mai 87 ging er schließlich in die Hautklinik und ließ sich dort generaluntersuchen. Dort sagte dann ein Assistenzarzt plötzlich aus heiterem Himmel: Sagen Sie mal, seit wann wissen Sie eigentlich, daß sie positiv sind? Erik ist aus allen Wolken gefallen. Im Daumen wurde schließlich ein Kaposi [seltene Krebsart, die sehr häufig als Folge von Aids auftritt; d.Red.] festgestellt.
Er hat alles verdrängt. Er hat aber auch unheimlich abgenommen, hat die Lust an allem verloren und sich zurückgezogen. Die Krankheit hat er aber nie richtig angenommen. Sein Sexualleben war dann einfach irgendwann nicht mehr da. Das ging nicht von heute auf morgen, das war ein langer Prozeß. Er hat mir dann auch immer gesagt, such dir jemanden fürs Bett. Es hat ihm aber gefallen, mich noch geil machen zu können, mich zu befriedigen. Er selbst jedoch wollte und konnte irgendwann nicht mehr. Er hat aber auch gedacht, daß es vielleicht irgendwann wieder geht.
A-Vau-Ka
Erik geht nicht mehr zur Uni. Denis hat einen neuen Job. Mitten im August 1987 bekommt Erik seine erste Lungenentzündung. Zur Behandlung geht er ins auf Aids spezialisierte Auguste-Viktoria-Krankenhaus in Schöneberg. Das AVK wird mehr und mehr zum Lebensmittelpunkt der beiden. Erik schließt sich einer Positivengruppe der Berliner Aids-Hilfe an, Denis besucht eine Gruppe für Angehörige.
Die Liebe hat sich eigentlich durch die Krankheit nicht verändert. Vorher, als er nicht wußte, daß er positiv ist, war das viel schlimmer, als er so lustlos herumhing und nichts gemacht hat. Zu dem Zeitpunkt hatte ich irgendwann auch einmal überlegt, ob ich mich von ihm trennen soll. Als er wußte, daß er positiv ist, war das dann aber nie mehr ein Thema. Es war klar, daß ich ihn nicht verlassen werde. Eigentlich habe ich mich das auch erst im nachhinein gefragt, ob ich nicht nur deswegen bei ihm blieb, weil er krank war. Ehrlich gesagt, hatte ich nie das Gefühl gehabt, daß ich jetzt zwangsweise bei ihm bleiben muß. Das stimmt nicht, daß ich geblieben bin, weil er positiv und krank war. Ich habe ihn damals immer noch richtig geliebt.
Auch die Freundschaften gab es dann im letzten Dreivierteljahr nicht mehr. Man hat sich kaum noch mit jemandem auf einen Kaffee getroffen. Wir sind auch mit niemandem mehr ein Bier trinken gegangen. Das war für mich der absolute Horror, das Jahr. Unheimlich stressig. Dauernd war irgend etwas zu machen. Er konnte nichts mehr selbst machen. Ich hatte zeitweilig sehr wenig Unterstützung. Ich habe mich damals sehr alleine gelassen gefühlt.
Knüppeldick
Im Februar 1988 beginnt Eriks letzter langer Krankenhausaufenthalt. Anfangs ist beiden noch nicht klar, daß es der letzte sein wird. Denis darf im AVK bei Erik im Zimmer übernachten. Jeden Morgen fährt er vom Krankenhaus direkt ins Büro — und abends von dort zurück in die Klinik. Wochenlang.
Es kam dann ganz knüppeldicke. Das Kaposi hat sich unheimlich ausgebreitet. Er hatte zudem eine atypische TBC. Wir haben dann sehr lange auf die Diagnose gewartet.
Vier Wochen lang schlief ich dort, dann konnte ich nicht mehr und hab' mich krankschreiben lassen. Ich konnte im Krankenhaus auch immer gar nicht richtig einschlafen, weil er sehr unruhig schlief. Wenn ich dort schlief, war er aber wesentlich ruhiger. Es war aber auch schön, ihn atmen zu hören. Die letzte Woche hat er im Koma gelegen, hat gar nichts mehr gesagt. Zum Schluß waren dann Eriks Eltern auch da. Seine Mutter hat die letzten vier Wochen bei uns gewohnt. Sie war tagsüber im Krankenhaus, ich ging abends und nachts hin. Das war schon unheimlich toll. Mit seinen Eltern habe ich jetzt immer noch Kontakt. Das ist mir auch wichtig. Die mögen mich jetzt auch sehr.
Schiff der Träume
Übers Sterben haben wir uns eigentlich kaum unterhalten. Es ging alles viel zu schnell. Fast bis ganz zum Schluß haben wir noch Zukunftspläne gemacht, zum Beispiel, daß wir irgendwann einmal zusammen arbeiten wollten. Daß es dann so schnell geht, wie es 88 gegangen ist, hätte ich nicht gedacht. Daß es für uns nur noch eine befristete Geschichte gab, war mir schon klar. Ich habe damals aber immer geglaubt, daß er noch einmal aus dem Krankenhaus herauskommt und wir vielleicht noch ein Jahr oder so hätten. Dann hätte ich meinen Job erst mal hingeschmissen, und wir hätten zusammen noch etwas Schönes machen können.
Am Ende war ich dann der einzige, den er noch erkannt hat. Seine letzten worte zu mir, bevor er gestorben ist, waren, ich solle jetzt nicht mehr weggehen. Und daß er sich wünscht, daß ich schnell wieder eine neue Beziehung habe. Seine allerletzten Worte waren, daß er mich liebt.
Gestorben ist er am Ostermontag früh gegen halb zwei im Krankenhaus, als sein Vater da war. Er ist sehr unverkrampft gestorben, ohne Todeskampf. Sein Vater sagte, er hat noch zwei-, dreimal ganz tief durchgeatmet, und dann war Schluß. Ich hab' später immer wieder gedacht, warum ist er nicht gestorben, als ich da war.
Eriks Traum war eigentlich, verbrannt zu werden. Seine Asche sollte danach über dem Meer verstreut werden. Das kam wahrscheinlich vom Schiff der Träume [Film von Fellini; d.Red.]. Den Film hatten wir mal zusammen gesehen. Mit seinen Eltern hatte er darüber aber nie geredet. Ich hab' erst überlegt, ob ich ihnen das überhaupt erzählen sollte. Freunde haben mir schließlich geraten, sag es — die Entscheidung liegt dann nicht mehr bei dir. Eriks Eltern fanden seine Idee aber nicht gut und haben ein Dreiergrab gekauft, für sich selbst gleich mit.
Ich war dann in der Nacht nach seinem Tod noch einmal im Krankenzimmer, alleine mit ihm, und habe mit ihm gesprochen. Dann sind wir nach Hause gefahren. Seine Mutter hat mir eine Schlaftablette gegeben und ich habe erst einmal zwölf, vierzehn Stunden geschlafen, tief und fest. Ich glaube, es war für Erik und mich eine Entlastung. Es war vorbei, einigermaßen gut vorbei. Bei mir war dann aber doch das Gefühl da, ohne Erik kann ich nicht leben, ich will auch sterben. Aber Erik wollte ja auch, daß ich lebe.
Der Kellner ist nervös
Erik wird nach Köln überführt und dort beerdigt. Denis läßt sich danach eher übereilt auf eine neue Beziehung ein, die aber nur wenige Wochen hält. Er sieht sie selbst im nachhinein als überstürzt an. Zunächst bleibt er noch für ein Jahr in der gemeinsamen Wohnung. Eriks Zimmer läßt er unverändert.
An meinem Arbeitsplatz habe ich von allem die ganze Zeit nichts erzählt. Die haben sich höchstens gewundert, daß ich immer so kaputt ausgesehen habe. Die wissen, glaube ich, nicht einmal, daß ich schwul bin.
Streß habe ich eigentlich immer gebraucht. Insofern war das mit der Arbeit auch ganz gut. Das war für mich damals immer Ablenkung. Architektur ist ja auch das, was ich liebe.
In der Trauerfeier hat mich der Pastor, der Erik konfirmiert hat, in Eriks Biographie nicht erwähnt. Ich finde es jetzt ganz schön, daß es einen Ort gibt, an dem ich Erik besuchen kann, und daß er nicht einfach nur in der Luft oder im Meer ist.
Am 8. Januar 89 hab' ich Michael kennengelernt. Er war Kellner in einem Restaurant in Wilmersdorf. Dort war ich mit meinen Eltern abends essen. Ich komm' dort ins Lokal rein und merke, wie ihm die Kinnlade runtergeht. Er kam dann an den Tisch und hat die Kerzen angezündet, dabei aber total gezittert. Meine Mutter meinte dann noch, Mensch, der Kellner ist ja total nervös. Ich hab' dann gesagt, entweder hat er neu angefangen — oder ich mache ihn nervös. Nach dem Essen habe ich dann meine Eltern nach Hause gefahren und gedacht, fährste noch mal hin. Alleine. Ich wollte ohnehin ein Bier trinken gehen, nach so einem langen Tag mit den Eltern. Michael ist dann fast in Ohnmacht gefallen, als ich da allein wieder aufkreuzte. Tja, und dann waren wir noch zusammen im »Zwiebelfisch«, einen trinken, und dann sind wir zu mir nach Hause.
Erik wird nie ganz verschwinden. Der ist eigentlich immer präsent. Ich unterhalte mich auch mit ihm, heute noch. Das Gespräch führte
Thomas Kuppinger
*Die Namen und einige Orte wurden auf Wunsch geändert. Wir danken »Denis« und den Mitarbeitern der Berliner Aids-Hilfe für ihre Unterstützung.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen