Gefühle der Hilflosigkeit

■ Die Jüdin Vladka Meed: „Es trifft uns immer wieder“

New York (6. Kriegstag) — Vladka Meed sitzt an ihrem Schreibtisch im Büro des „Jewish Labor Committee“ in der East 21st Street, Ecke Broadway. „Sie wollen wissen, was ich über diesen Krieg denke und fühle?“ Die Holocaust-Überlebende ist zunächst sehr zurückhaltend; skeptisch prüft sie die Visitenkarte des Besuchers. „Den Bildern von den Gasmasken in Israel folgt die Erinnerung an meine Leute: an meine Mutter, meine Schwester, an Treblinka — nur daß es diesmal nicht Hitler, sondern ein anderes Übel ist, das keine menschlichen Gefühle, keine humane Veranwortlichkeit kennt.“

Aus dem im Nebenzimmer laufenden Fernsehgerät klingt das Geräusch von Krankenwagensirenen zu uns herüber. Gerade ist eine irakische Scud-Rakete in ein Wohnviertel von Tel Aviv eingeschlagen. Gebannt und entsetzt verfolgen Vladka Meeds Kolleginnen und Kollegen nebenan die Berichterstattung vom Ort des Raketenangriffs. „Es ist das gleiche Gefühl der Hilflosigkeit wie damals“, sagt sie, obwohl ihre persönliche Erfahrung einer solchen Hilflosigkeit zu widersprechen scheint. Damals, 1942/43, schmuggelte die blonde Vladka als Anführerin des „Jüdischen Sozialistischen Bundes“ zum Widerstand bestimmte Waffen ins Warschauer Ghetto. Auf beiden Seiten der Mauer, so lautet der Titel ihrer Memoiren aus dem Untergrund des Ghettos in der polnischen Hauptstadt.

Während sie über die Notwendigkeit des gegenwärtigen Krieges redet, spielen ihre Hände mit einem Gummi, das sie immer wieder bis an die Grenzen der Belastbarkeit spannt. „Wie soll man denn mit einem reden, der nicht zum Dialog bereit ist?“ Sie sei immer für eine friedliche Lösung, für Gespräche gewesen, weil selbst der gerechteste Krieg noch zuviel Zerstörung bringe. Kuwait interessiere sie nicht, auch Saudi-Arabien sei ihr egal. „Aber was glauben Sie denn, was ich über diese Deutschen, die Franzosen, die Amerikaner fühle, die mit Saddam Hussein bis gestern noch ihre Geschäfte betrieben haben?“ Die Naivität der Politiker, die Unfähigkeit, aus der Vergangenheit zu lernen, kann Vladka Meed „einfach nicht verstehen“.

Was denkt sie über die Deutschen, die gegen diesen Krieg demonstrieren? Ruhig sitzt sie hinter ihrem Schreibtisch, auf dem sich die Korrespondenz des jüdischen Arbeiterbundes über die Holocaust-Erziehung an den Schulen stapelt. Nur das Zurückschnellen des Gummis auf ihre Finger zeugt von ihrer Anspannung. „Pazifismus wird in einer täglich kleiner werdenden Welt immer schwieriger.“ Wo die Fernsehsatelliten uns immer näher zusammenbringen, müsse sich jeder einmischen, auf die richtige Art, versteht sich; aber auf jeden Fall Position beziehen. „Sie können sich nicht länger in die Ecke zurückziehen. Auch Deutschland muß sich gegen dieses Übel aussprechen!“

Vladka Meed und ihr Mann gehörten zu denjenigen, die sich vor wenigen Wochen im Namen der Überlebenden des Holocausts gegen eine Emigration sowjetischer Juden nach Deutschland ausgesprochen haben. Und doch schließt für sie jetzt das „richtige“ Engagement der Deutschen auch die Entsendung deutscher Truppen als Teil der alliierten Koalition mit ein. Es gelte, gegen Saddam zu kämpfen, „mit Geld, mit Truppen, mit allem, was wir haben“.

Aus dem Nebenraum dringen die Nachrichten über den Raketenangriff. Vermutlich 70 Verletzte, die Zahl der Toten noch unbekannt. Das israelische Kabinett wird am nächsten Morgen über Stillhalten oder Vergeltung beraten. „Saddam Hussein hat uns Juden in Amerika eines wieder deutlich gemacht“, sagt Vladka Meed, das Gummi schmerzhaft um ihre Finger gewickelt, „es gibt keine Assimilierung, es trifft uns immer wieder.“