: Die Angst vor 1956
■ Zum Zusammenhang zwischen Golfkrieg und Baltikum
Als 1956 Frankreich und England einen Nahostkrieg gegen Ägypten führten, schlugen sowjetische Truppen den ungarischen Aufstand nieder. Die westlichen Mächte waren mit ihrem eigenen Krieg zu sehr beschäftigt, als daß sie hätten gleichzeitig wegen Ungarn reagieren können. Auch 1968, als die Rote Armee dem Prager Frühling ein Ende setzte und die Tschechoslowakei okkupierte, war zumindest die westliche Führungsmacht mit dem Krieg in Vietnam und den Protesten im eigenen Land handlungsunfähig. Die Menschen in Ungarn und der Tschechoslowakei mußten ihren Freiheitswillen „übergeordneten“ Interessen der Supermächte opfern.
Die Koinzidenz der Ereignisse hatte zurecht zu der Vermutung geführt, die beiden Supermächte respektierten gegenseitig weiterhin ihren Einflußbereich. Dieser „Geist von Jalta“, der alle Rhetorik des Kalten Krieges überdauerte, verblaßte erst angesichts der Entwicklung in Polen Ende der siebziger Jahre. Im Zusammenhang mit dem KSZE-Prozeß und der Bildung von Helsinki-Gruppen in den Ländern des Warschauer Pakts wurde das östliche Argument, Kritik an den Verhältnissen im Ostblock sei eine „Einmischung in die inneren Angelegenheiten“, zunehmend wirkungslos bis hin zum Zerfall der stalinistischen Herrschaft.
Jetzt liegt — angesichts der Schüsse von Vilnius, Riga und Tallinn — wiederum die Vermutung einer stillschweigenden Übereinkunft der Führungen von Washington und Moskau nahe. Die sowjetische Bereitschaft, im Golfkonflikt schon frühzeitig auf eigene diplomatische Bemühungen zu verzichten und das Feld in den Vereinten Nationen den USA zu überlassen, hat diesen Verdacht ebenso genährt, wie die verhaltenen westlichen Reaktionen auf die Ereignisse in den baltischen Ländern. Auch der Zeitpunkt der reaktionären Offensive in Vilnius paßt ins Bild.
Für die Zurückhaltung des Westens mag das durchaus ernste Argument sprechen, der drohende Zerfall der Sowjetunion berge unabsehbare Risiken: Könnte nicht ein Bürgerkrieg dort angesichts des atomaren Potentials ungeahnte Auswirkungen für das restliche Europa und die ganze Welt haben? Doch wir alle dürfen uns angesichts dieser Rechtfertigung nicht wundern, wenn Litauer, Esten und Letten sich schon jetzt — wie damals die Ungarn und die Tschechoslowaken — verraten fühlen.
Bisher hat dieser Aspekt des Golfkrieges in der aktuellen Diskussion der Friedensbewegung nur durch die Intervention der Bürgerechtsbewegung der Ex-DDR eine Rolle gespielt. Für jene Westler hingegen, denen allein die USA für den Krieg am Golf verantwortlich scheint, ist es schwierig, Solidarität mit Menschen aufzubringen, die gerade die USA und die Vereinten Nationen zu Hilfe rufen. Doch angesichts der Waffen, die auf die Balten von Sondereinheiten des Innenministeriums und von Teilen der Armee gerichtet sind, angesichts der Bedrohung, in die alte Barbarei zurückzufallen, sind wir verpflichtet, mit unseren beschränkten Mitteln alles zu tun, um die Rechte der Balten zu verteidigen. Und wenn es nur dies wäre, geschlossene Weltbilder aus unseren Köpfen zu verbannen.
Erich Rathfelder
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