: Der Herr von Neuschwanstein
John Dew inszeniert „Lohengrin“ in Bielefeld ■ Von Frieder Reininghaus
Eine Geschichte aus der Frühgeschichte des ersten deutschen Reichs: mutig bis zur Lächerlichkeit. Ein Libretto, das in den nationalistischen Brustton der vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts einstimmt. Ein Text der Männerphantasie, aufschlußreich bis peinlich, mit schrillem Weibergekeif und überzogener Empfindsamkeit der Außenseiterin (sie stirbt, weil sie ihren Willen nicht durchzusetzen vermag). Die Musik zu Lohengrin, die Richard Wagner in den Monaten vor der Revolution 1848/49 rasch konzipierte und dann auch gleich in Reinschrift brachte, enthält gegenüber der Verhandlung von Tagespolitik in historischem Kostüm, entgegen der Moral des Kollektivzwanges, trotz höchst anfechtbarem Frauenbild und gespreiztestem Männlichkeitskult (und womöglich auch erst vermittels all dieser Ideologie) ein wahrhaft ungeheures Potential der Musik. Welch gesteigerter Ton an der Schnittstelle von „romantischer Oper“ und Musikdrama! Jenem musikalischen Drama, das Wagner in Eine Mitteilung an meine Freunde oder der Schrift Oper und Drama erst einmal als Zukunftsmusik behauptete, dann exzessiv ins Werk setzte: einer der großen Tagträume bürgerlicher Pioniere.
Delikates Doppelspiel mit der frühen Rezeptionsgeschichte des „Lohengrin“
In Bielefeld wurde die Oper vom Gralsritter, der einer in höchste Bedrängnis geratenen Fürstentochter auf unerwartete Weise und im buchstäblich letzten Augenblick beisteht, jetzt frisch aufbereitet. Und zwar so, daß sich alteingesessene Wagnerianer die Augen reiben, deutschnatinale Senioren und Yuppies empören müßten, wenn sie den Weg ins Stadttheater fänden und die neueste Unternehmung des Regisseurs John Dew nicht als opulentes Unterhaltungsprogramm nähmen, das zwar am Chauvinismus ein wenig kratzt und mit der frühen Rezeptionsgeschichte des Lohengrin ein delikates Doppelspiel treibt, schließlich aber doch ganz königstreu ausfällt und sich den Wagnerschen Maßlosigkeiten fügt.
Gegeben wird in Bielefeld ein Stück, das „Ludwig II.“ heißen könnte: eine Pantomime nach dem Briefwechsel zwischen dem legendären Bayernkönig und dem Tonsetzer aus Leipzig mit Musik (und teilweise sogar verständlichen Worten) von Richard Wagner. Serviert wird ein westfälischer Kostüm-Schinken. Musikalisch allerdings aufs beste geräuchert von Generalmusikdirektor Rainer Koch. Der leitete ein Sängerensemble, wie es selten in der deutschen Provinz versammelt sein dürfte, und führte das Philharmonische Orchester der Stadt zu seiner Glanzleistung.
Im Mittelpunkt steht eine stumme Gestalt: Ludwig II.
Im Mittelpunkt aber steht eine stumme Gestalt, die zu den ersten Sirenenklängen des Vorspiels von der Seite naht, sich aus der mit vielen Lampen geschmückten Säulenreihe löst und auf dem Sessel in der Mitte der Bühne Platz nimmt: Ludwig. Den kleinen Bruder Otto hat er dabei, der am Schluß der Oper als der junge, aber leider wohl regierungsunfähige Herzog Gottfried von Brabant wiederkehrt. Während Wagners Musik in die Modulationsgänge einsteigt, nähert sich die böse Kamarilla Münchens, bemächtigt sich Ottos, um ihn in der Anstalt zu verwahren. Ludwig II. ist ganz gefangengenommen von dem Theater auf dem Theater, zu dem im Hintergrund der Vorhang aufgeht (und in das er immer wieder eingreift). Das Mittel der Brechung einer Opernhandlung durch ein Theater im Theater ist in den letzten zwei Jahrzehnten durch Herbert Wernicke, Hans Neuenfels oder Harry Kupfer häufiger in Anspruch genommen worden. Hier bei Dew schafft es neuen Sinn.
Wagners König Heinrich, der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als „eigentlicher Begründer des Deutschen Reichs“ gefeierte und als „Heinrich der Vogler“ besungene Sachsenherzog, erscheint in der Bielefelder Inszenierung als Kaiser Wilhelm I. mit dem Personal der zweiten Reichseinigung von 1871, mit einem „Heerrufer“ Bismarck und den in Frankreich siegreichen Militärs. Die Mannen von Brabant allerdings sehen wie fröhliche bayerische Landsleute aus, tragen die bekannten Lederhosen und tanzen Schuhplattler. Das „Gottesgericht“ findet nicht als Schwertkampf in Antwerpen, sondern in einem eilends hereingeschobenen Boxring statt — per Fingerhakeln. Zu diesem Termin schwebt der Schwan ein — Modell Kirmeskarussell; und dem edlen Tier entsteigt ein Gralsritter, der fast wie Richard Wagner aussieht und auch dessen Barett trägt. Alle Langatmigkeit des Werks wird derart kurzweilig überspielt.
Die erklärte Absicht des Regisseurs war freilich nicht, die Unsäglichkeit des Stücks nur süffisant zu kommentieren. Ihm ging es darum, mit der Einbeziehung des vom Lohengrin so ergriffenen Ludwig II., der schon als Jüngling dem Schwanenkult frönte, einen Monarchen zu rehabilitieren, der sein Volk nicht „in Kriege und damit in den Ruin“ führte, sondern seiner „Liebe zu Schönheit und Kunst“ lebte. Daher die aufgepfropfte zweite Handlungsebene. Der Herr von Neuschwanstein verwob ja in seiner Lebenswirklichkeit seine Existenz so intensiv mit der des Gesamtkunstwerkers Wagner, daß sich der Inszenierung eine Fülle von Episoden für die Pantomime anboten. Wie er sich mit Elsa übers Maß identifiziert, sich in den dem Schwan entsteigenden Richard Lohengrin verliebt, in den Verwicklungen der Story an den Rand gedrängt wird — all das kitzelt John Dews Inszenierung zur Genüge heraus (freilich droht das Doppelspiel der beiden Handlungsebenen mitunter aus dem Lot zu geraten, wenn einer der beiden Stränge zu lang oder optisch zu stark in den Vordergrund gerückt wird).
Ludwig glüht still und leidet mit Elsa, die ihm in der pelzbesetzten Gewandung zunächst wie eine Schwester gleicht (und mitunter scheinen beide Figuren fast zu einer verschmelzen zu wollen; aber das
Ludwig glüht still und leidet mit Elsa
können sie nicht). Dann nimmt Elsa das durch Film und Fernsehen bekannte Outfit der (von Ludwig vergeblich begehrten) Kaiserin Sissi von Österreich an — eine wirkliche Fleißarbeit der Ausstatter. Und wenn es, nach absolviertem Kampf und der großen Rivalitätsszene zwischen Elsa und Ortrud, dem Brautgemach zugeht, dann faßt Lohengrin- Wagner den Siegespreis an der Hand und geht mit der außergewöhnlichen Frau auf das im Hintergrund eingeblendete Haus Wahnfried zu wie mit Cosima. Der stumme König hat das Nachsehen. Das Brautgemach selbst erweist sich dann als Theaterloge. Noch einmal tauschen Ludwig und Elsa die Rollen: der König neben dem aufdringlichen Künstler. Aber Cosima-Elsa verdrängt ihn wieder, stellt die verhängnisvolle Frage und veranlaßt den Gralsritter zur Abreise — indem er von seiner Heimat Monsalvat singt, zeigt sich das Festspielhaus Bayreuth in mattgoldenem Glanz.
Die ganze Ausstattung mit ihrem erheblichen Aufwand ist aus Bild-Zitaten montiert — von den Insignien der Reichseinigung 1871 bis zum Postkartenbild Hohenschwangaus und den Interieurs dieses (nach dem Vorbild der Lohengrin-Uraufführung ausgestatteten) Herrscherdomizils. So auch der Schluß: Nachdem ihm der Schwanenritter für immer entschwunden ist, findet Ludwig im Ringen mit seinem Leibarzt Dr. Gudden im Starnberger See den Tod. Die Verwicklung von Phantasie und realem Königswillen, Staatsmacht und Teilhabe an der Sphäre des Künstlerischen, führte zu einem trüben Tod.
Ein Leben in Schönheit und Melancholie ging ihm voran. Im allgemeinen Wahnsinn der heraufziehenden Epoche nur scheinbar eine Verrücktheit, freilich eine besondere. Daß und wie ihr in Bielefeld nachgespürt wurde, darin liegt die Faszination der neuesten Dew-Produktion, die aus dem Hang zum Entertainment keinen Hehl macht. Eine Verallgemeinerung über die besondere Problematik Ludwigs hinaus, die generell das Verhältnis von klassischen Herrscher(un)tugenden und Kunstsinnigkeit bei Machthabern erhellte, vermochte die Inszenierung nicht zu leisten. Aber das wäre auch wohl zuviel verlangt. Die Produktion siedelte sich konsequent in historistischem Milieu an und verzichtete auf Anspielungen über das 19. Jahrhundert hinaus. So blieb es bei der Rekonstruktion des Leidens eines latent homosexuellen Monarchen einer versinkenden Epoche. Und das ist nur bedingt eines der heute weltbewegenden Probleme, auf die John Dew bislang mit großer Anstrengung zielte.
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