: Stuhlgang des Heiligen Stuhls
■ Deutschsprachige Erstaufführung von Jean Genets Papst-Farce „Sie“ in Bochum
Saint Genest, der Schutzpatron der Schauspieler, ließ sich im 3. Jahrhundert in einem Theaterstück parodistisch taufen und wurde dadurch wirklich bekehrt. Ein Heiliger ist also, wer sich vom religiösen Bild beherrschen läßt.
Jean Genet, der Dichter der Amoralität, der Heilige des Existenzialismus, war fasziniert von der Macht der Bilder. Die Imagination, der Traum, war für ihn stärker als die Wirklichkeit. Die Verkehrung von Schein und Sein ist ein Grundprinzip seiner Theaterstücke. In seinem 1955 geschriebenen Stück Der Balkon zeigt er Kleinbürger, die in einem Bordell ihrer Lust, Bischof, Richter und General zu spielen, nachgehen. In dem selben Jahr schrieb er ein Stück, in dem er die nächste Frage stellt: Was passiert, wenn man das Wunschbild, das man sich von sich selbst gemacht hat, erreicht? Nach welchem Bilde soll man streben, wenn es kein weiteres mehr gibt? Für Genet, den Dieb, den Verbrecher, den Poeten, ist das endgültige Bild — der Papst.
Genet hat den Einakter, obwohl fast vollendet, damals nicht veröffentlicht. Erst im letzten Jahr, vier Jahre nach seinem Tod, wurde er in Frankreich uraufgeführt. Er ist scheinbar blasphemisch, keineswegs aber zielt er auf eine Verleumdung der Religion. Es geht um die Vernichtung des endgültigen Bildes.
Der Papst soll photographiert werden. Ein Türhüter bereitet den Photographen mit Sätzen von kafkaesker Zweideutigkeit auf das Erscheinen des Oberpriesters vor. Er spricht von „ihr“, wenn er ihn meint. Erst spät klärt sich im Kopf des Photographen und des Zuschauers die Konfusion von Genus und Sexualität auf: Sie ist Seine Heiligkeit, die Heiligkeit ist ein alter Mann oder ein Bild, das nur in der Grammatik ein Geschlecht hat.
Der Papst erscheint und zeigt sich dem Photographen im vollen Ornat, aber nicht in der Pose frommer Andacht, sondern in der Antipose schlechthin. Die Tabuverletzung ist drastisch und kalkuliert. Der Würdenträger präsentiert sich würdelos auf dem Topf hockend, in der „Haltung eines alten Türken“. Er will das Bild seiner eigenen Heiligkeit zerstören. Messerscharf argumentiert er weiter: Wenn durch die Heiligkeit des Papstes noch sein trivialstes Abbild geheiligt wird, so kann ein beliebiger Gegenstand den Papst darstellen. Per päpstlichem Dekret erklärt er daher Würfelzuckerstückchen zu seinen Abbildern. Wünschen Sie einen Papst oder zwei im Kaffee? — Umrühren und fertig, der Papst ist futsch.
Nach dieser bizarren Pointe zieht sich der Papst zurück, ohne daß der Photograph sein Andachtsbild hätte schießen können. Statt dessen erscheint sein Doppelgänger: der Photograph, der den Photographen beim Photographieren photographieren sollte. Die Auflösung der Wirklichkeit in Bilder ist nicht aufzuhalten.
Verglichen mit den Attacken des heutigen Kinos auf unsere optischen Tabus ist Genets Bilderstürmerei eher harmlos. Aber sie gründet auf einer radikalen Reflexion: Wenn wir uns selbst finden wollen, indem wir unsere Wunschbilder verwirklichen, wie werden wir die Bilder wieder los, nach denen wir uns geformt haben? Genets Papst ist nur eine Metapher, ein Stellvertreter, aber nicht Gottes, sondern des Menschen, ein heiliger Jedermann.
Das Stück ist intellektuell so brillant und von so effektvoller Theatralik, daß die Verspätung, mit der es auf die Bühne kommt, verwundert. Angst vor Skandalen hatte Genet nie. Und heute wird es keine mehr geben, es sei denn, man will das Stück in Rom oder Paderborn spielen.
In Bochum inszeniert es Benjamin Korn, der dort schon früher, zu Peymanns Zeiten, gearbeitet, sich aber seit einigen Jahren vom deutschen Theater zurückgezogen hat und in Paris lebt. Er verschärft die Satire des Stückes, spielt amüsiert mit dem Sakrileg, aber vergröbert nie. Der Auftritt des Papstes wird mit ohrenbetäubender Triumphmusik aufgedonnert, Dämpfe wallen, Lichter glänzen, unbewegt schwebt der Pontifex Maximus die Treppenstufen herab. Eine bombastische Zeremonie von gnadenloser Ironie. Die Ikonographie des Papsttums wird so übersteigert, daß nun die kleinste private Handbewegung des Oberhirten stört. Der Papst bohrt sich im Ohr, der Papst kratzt sich, der Papst raucht eine Zigarette. Diese kleinen Provokationen bereiten die große vor: den Stuhlgang des Heiligen Stuhls. Die Inszenierung setzt auf Genets Grobheit keinen groben Keil. Peter Roggisch kann in der Rolle des Papstes alle Register seiner Differenzierungskunst ziehen: kleine Gesten, große Tiraden, grelles Gelächter, greisenhaftes Gegrummel, abgeklärte Ironie und jammerndes Pathos. Das Bühnenbild ist voll von falscher Pracht, die Kostüme sind prunkvoll wie Tuntenfummel, aber nie gerät die Inszenierung in Gefahr, das Stück zur Klamotte zu verflachen. Benjamin Korns Inszenierung zeigt die Macht der Bilder, ohne ihr zu erliegen. Gerhard Preußer
Jean Genet: Sie , Regie: Benjamin Korn, Bühne: Roberto Plate, mit Peter Roggisch, Georg-Martin Bode, Volker Mosenbach, Schausielhaus Bochum (Kammerspiele). Weitere Vorstellungen: 30. Januar, 2., 12. und 21. Februar, 2. März.
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