: „Kein Ort, an den wir fliehen können“
■ „Versehentlich“ sind bereits elf Bomben und Raketen auf die Region Hakkari gefallen
Hakkari (taz) — Das Dorf Ormenli bei Hakkari, keine fünf Kilometer von der türkisch-irakischen Grenze, ist so gut wie eingeschneit, und das hat seinen noch verbliebenen 150 Einwohnern wahrscheinlich das Leben gerettet. In diesem Schnee blieb nämlich die Bombe stecken, die am Nachmittag des 25. Januar aus einem Jet fiel und 30 Meter neben dem letzten Haus des Dorfes steckenblieb.
Der Bauer Mehmet Ölmez, der in diesem Haus wohnt, erschrak nicht schlecht, als sich da aus einem der lärmenden Jets, an die sie sich seit Kriegsbeginn gewöhnen mußten, ein silbernes Etwas löste. Das Etwas erwies sich dann als eine über fünf Meter lange Bombe mit zwei Metern Durchmesser. Zwei Tage lang hielt die Bevölkerung von Ormenli mehr oder weniger respektvollen Abstand vor diesem silbrig glänzenden Riesenosterei, das ihnen da in den Schnee gelegt worden war, dann überflog ein Militärhubschrauber das Dorf. Doch das allgemeine Aufatmen war zu früh, der Hubschrauber umkreiste die Bombe nur dreimal und flog wieder ab. Die Bombe steckte weiter in dem Steilhang, und es wurde immer schwerer, die Kinder davon abzuhalten, sie zu besteigen und etwa auf ihr herumzuturnen. Noch immer ist die Gefahr nicht gebannt, und das Ding, das übrigens keinerlei Aufschrift trägt, kann jeden Moment abrutschen.
Elf Bomben und Raketen dieser Art sind in der vergangenen Woche über drei Dörfern des Grenzdistriktes bei Hakkari niedergegangen, sechs davon explodierten. „Jeden Tag überfliegen hier 18 bis 20 Jets Hakkari in Richtung Irak und kehren nach ein bis zwei Stunden zurück. Das geht seit Beginn des Krieges so“, erklärt Abdurrahman Keskin, Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei von Hakkari. „Im Nordirak gibt es zumindest im östlichen Teil noch immer keine außergewöhnlichen Maßnahmen, die auf Angriffsmaßnahmen schließen lassen“, berichten die zwei irakischen Offiziere, die einen Tag vor Ausbruch des Krieges nach Hakkari geflohen waren. Sie erklären weiter, daß der östliche Nordirak mehr oder weniger völlig evakuiert sei.
In Hakkari herrschen Angst und Ungewißheit
Auf Grund der intensiven Bombardements hat die kurdische Guerilla ihre Stützpunkte im Nordirak weitgehend geräumt. Ein Teil der Kämpfer der in der Türkei operierenden PKK ist über die Grenze gekommen, genau in die Region, in der die „versehentlichen“ Bomben niedergegangen sind, ein anderer Teil ist in den Iran gegangen. Auch die kurdische Front Irak, in der sich fünf im Irak operierende kurdische Organisationen zusammengeschlossen haben, hat ihre Leute in den Iran abgezogen.
In Hakkari machen sich Angst und Ungewißheit breit. „Was sind das für Bomben, wo kommen sie her, warum erklärt keiner, was los ist?“ Gesprächsfetzen dieser Art lassen sich in jedem Teehaus, an jeder Bushaltestelle auffangen. Offizielle Erklärungen gibt es keine. Hakkari ist eingeschneit, die Straßen zu den Grenzbezirken sind nur schwer passierbar, auch die türkische Presse kann nur unter größten Schwierigkeiten über die Situation im Länderdreieck Iran/Irak/Türkei berichten. Der Krieg findet hier in der Luft statt. Die Landstreitkräfte haben keine merkliche Unterstützung erhalten. Die Ungewißheit, was in der Türkei und im gesamten Mittleren Osten vorgeht, ist noch größer geworden seit die kurdischen Radiosender der KDP, der Komals und der PKK, die alle aus dem nahegelegenen Iran senden, systematisch zerstört werden.
Der Krieg hat auch in Hakkari schon seine ersten Spuren hinterlassen. „1989 sind wir vor dem türkischen Heer in den Irak geflohen“, erzählt eine Frau aus dem Dorf Cigli in unmittelbarer Nähe der Grenze, „jetzt, als die Bombardements begannen, sind wir wieder zurück in die Türkei. Vorgestern hörten wir auch hier die Bomben fallen. Hier gibt es keinen Ort mehr, an den wir fliehen können.“ Lissy Schmidt
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