: In Vermutungen steckengeblieben
■ Eine neue Biographie Virginia Woolfs
Zweifellos besitzen Virginia Woolfs Tagebücher und ihre Autobiographie Eine Skizze der Vergangenheit die Qualität von Bekenntnissen. Der Leser folgt ihr in die Idylle viktorianischer Kindheitstage mit Gouvernante und Sommerferien ebenso wie zu den quälenden Erinnerungen an das freudlose patriarchalisch regierte Elternhaus. Und so unvermittelt, wie Virginia Woolf von aufblitzenden Fragmenten aus der Vergangenheit eingeholt wird, erleben auch wir die sich steigernde (halb-) brüderliche Zuneigung George und Gerald Duckworths, die schließlich zu dem lebenslang nicht verkrafteten Trauma sexuellen Mißbrauchs führte.
1939 hat Virginia Woolf Sigmund Freud in seinem Londoner Exil kennengelernt. Seither hat sie sich intensiv mit Freuds Werk auseinandergesetzt, und zwar besonders mit der schon 1896 an die Stelle der Verführungstheorie getretenen Trieblehre. Freuds Darstellung, daß Inzestberichte nicht auf Erlebnisse, sondern auf Wunschphantasien zurückgehen, hat Virginia Woolf in tiefste Verwirrung gestürzt. Trotz der Zweifel an der Wahrhaftigkeit ihrer Erinnerungen hat sie diese jedoch letzlich behauptet, mit zunehmender Klarheit herausgearbeitet und in Werken, Briefen und Tagebüchern formuliert. Daß sie von ihren Halbbrüdern jahrelang sexuell mißbraucht wurde und inzestuöse Beziehungsstrukturen ihr gesamtes familiäres Umfeld beherrschten, gehört denn auch zum festen Tatsachenbestand der Forschung, den kein Biograph unterschlagen hat. Die vorsichtige Behandlung, die ihm im allgemeinen zuteil wird, rührt weniger aus den Verdrängungstendenzen von Seiten der Biographen als aus der Tatsache, daß Virginia Woolf sich nicht mehr als zweimal konkret dazu geäußert hat, was ihre Halbbrüder an ihr begangen haben. Der Rest bleibt im Dunkel und ist wohl auch nicht mehr rekonstruierbar. Man hatte also Grund, gespannt zu sein auf eine Biographie, die sich „die Auswirkungen sexuellen Mißbrauches auf ihr Leben und Werk“ zum Thema nimmt, mit großer Gebärde in der Einleitung neue Erkenntnisse verspricht und Vorläufern die Verharmlosung, ja Nichtachtung der traumatischen Geschehnisse in Virginia Woolfs Kindheit zur moralischen Last legt. Immerhin hat Louise De Salvo so weit gründlich recherchiert, auf verdienstvolle Weise auch Virginia Woolfs Schwestern in die Darstellung der inzestuösen Verstrickungen miteinbezogen und zumindest teilweise die emotionalen Folgen für deren Leben und Persönlichkeit herausgearbeitet. Leider bleibt sie dem Leser die Thematisierung dieses Bereichs in Bezug auf Virginias Beziehung zu Leonard Woolf schuldig. Auch wenn sie sich vieler Gemeinplätze bedient und in nicht ganz zulässiger Weise die seelische Struktur der durch ihre viktorianische Kindheit geprägten Dichterin mit der neueren psychologischen Forschungsliteratur zur heutigen Inzestproblematik rückwirkend zu erklären versucht, sind ihr Fleiß und das engagierte Bemühen, Virginia Woolf gerecht zu werden, nicht abzusprechen.
Trotzdem würde der LeserIn bald klar, daß das ehrgeizige Vorhaben, eine wahrere und bessere Biographie zu schreiben, gescheitert ist. Denn nur um den Preis hat Louise De Salvo ihr Vorhaben verwirklichen können, daß sie ihren Ruf als Wissenschaftlerin gefährdet und bedenkenlos die Grenze zwischen Fakten und Hypothesen aufhebt. Im Eifer des Gefechts begeht sie die Hauptsünden des Biographen — und tut damit weder der Frauenbewegung noch Virginia Woolf, die sie zu Recht als deren Vorkämpferin darstellt, einen Dienst. Sie bewertet die Personen, von denen sie spricht, von einem moralischen Standpunkt aus, der zwar verständlich und nachvollziehbar ist, in einer Biographie jedoch nichts zu suchen hat: „Es muß sie an die von männlicher Gier verzerrten Gesichter erinnert haben, wie sie sie bei Gerald und George gesehen haben mag.“ Zum andern kontaminiert Louise De Salvo Fakten, Hypothesen und teils haarsträubende Überinterpretationen zu vermuteten Wahrheiten, die sie zwar nicht recht konkretisieren kann, dafür aber so lange wiederholt, bis sie sich selber glaubt. Was durch Quellenzitate und (teilweise falsch zugeordnete) Bilder nicht belegt werden kann, erhält durch die Anführung psychologischer Fachliteratur ein, wenn auch fremdes, Rückgrat — oder es wird duch Analogieschlüsse noch ein bißchen wahrer, die die angehende Professorin auf keinem geringeren geistigen Niveau zieht als „Einige der Symptome, die Laura zeigte — Brechreiz, Wutanfälle und Lesehemmungen [...] — , treten immer wieder bei sexuell mißbrauchten Kindern auf.“
Schließlich macht Louise De Salvo inflationären Gebrauch von dem Begriff des Traumas und ignoriert den immerhin beträchtlichen Unterschied zwischen körperlicher Gewalt und Inzest, so daß am Ende nicht allein alle weiblichen Mitglieder in diesen verstrickt zu sein scheinen, sondern darüber hinaus Virginias Vater Leslie Stephen seinen beiden Stiefsöhnen vorgelebt hat, wie man Töchter vergewaltigt: „In der Beschreibung ihrer Wut auf (den Vater) bedient sie sich einer Vergewaltigungsmetapher: „,Wie tief das alles in mich eindrang‘ [...]. Leslie hatte (George und Gerald) vorgeführt, daß Selbstbeherrschung nicht die Parole männlichen Verhaltens war [...]. Es war demnach sicher eine traumatische Erfahrung, in solch einer Familie vergewaltigt worden zu sein.“
Jeder Versuch, das Ausmaß des an Virginia Woolf begangenen Mißbrauchs abzustecken und seine Beziehung zu ihrem Selbstmord zu ergründen, wird jedoch immer an der Scham scheitern, die es der Dichterin selbst zeit ihres Lebens unmöglich gemacht hat, sich über Sexualität zu äußern: „Ich finde es interssant, daß Du nicht über Onanie schreiben kannst. Das verstehe ich [...]. Da aber unser Leben zu einem so großen Teil aus Sexualität besteht [...], sind, wenn das alles ausgeblendet wird, einer Autobiographie Grenzen gesteckt.“ (1941 an Ethel Smyth)
Diese Grenzen sind immer auch die des Biographen. Louise De Salvo, die sich allzu sehr mit ihrer Heldin identifiziert, ignoriert sie in engagierter Unbekümmertheit. Katharina Kaspers
Louise De Salvo: Virginia Woolf. Die Auswirkungen sexuellen Mißbrauchs auf ihr Leben und Werk. Kunstmann Verlag, 428 Seiten, gebunden, 68 Mark
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen