: »Man muß die Kunst der Langsamkeit üben«
■ Der Berliner Politikprofessor Wolf-Dieter Narr über die Abwicklung und notwendige Universitätsreformen in Ost und West
In einem Brief an den Senat prostierten namhafte Professoren der Freien Universität gegen den »kalten und konzeptionslosen« Schlag gegen die Humboldt-Uni. Die Abwicklung von fünf Fachbereichen sei »prinzipiell und aktuell falsch« und verfehle außerdem das Ziel einer Erneuerung der Universität. Die Forderungen der Unterzeichner gehen aber über »eine angemessene Verfahrensweise« mit der Humboldt-Uni hinaus. Die angestrebten Reformen der Ex-Ost-Unis sollten mit dem Nachdenken über den Zustand der West- Unis verbunden werden.
taz: Herr Narr, Ihr Protestbrief kommt erst fünf Wochen nach dem Abwicklungsbeschluß des Senates. Haben Sie bis jetzt geschlafen?
Wolf-Dieter Narr: Ich hoffe, wir kommen nicht zu spät. Das Verfahren gegen die Abwicklung ist voll im Gange und klappern gehört zum Geschäft. Außerdem muß man sich als Hochschullehrer der Freien Universität dazu äußern, wenn mit einer Uni mit bürokratischer Willkür verfahren wird. Denn das wirkt sich notwendigerweise auch auf die westdeutschen Unis aus, das sie immer wieder abgewickelt werden und leider die anderen Hochschullehrer sich nicht dagegen wehren.
Inwiefern werden westdeutsche Unis mitabgewickelt?
Es gibt keine sinnvollen Konzeptionen über der Aufgaben der Unis in der Gesellschaft. Dabei gehen die Unis, besonders die Freie Universität, vor die Hunde. Sie ist eine verwahrloste und verwahrlosende Veranstaltung. Sie ist keine Uni, sondern eine »Multiversity«, ein riesiges Aggregat, in das der Wissenschaftssenat in jedes Detail hineinfungieren kann. Das heißt nicht Abwicklung, sondern das wird immer nach den Grundsätzen des Berufsbeamtentums betrieben.
Sie fordern eine Reform, schätzen gleichzeitig ein, daß diese an der Humboldt-Uni von innen heraus nicht möglich ist. Was setzen Sie der Abwicklung entgegen?
Man muß versuchen, die Kunst der Langsamkeit zu üben und zur Freiheit gleichsam in Freiheit erziehen. Per Order aus der Bretschneiderstraße greift man in den inneren Mechanismus dieser Universität ein, ohne ihn zu ändern. Wie bei einem chirugischen Schnitt nimmt man einige Organe heraus, um sie durch neue westdeutsch-geschönte zu ersetzen. Der systematische Fehler liegt in dem Glauben, daß kreative Wissenschaft wachsen kann, wenn die Leute dies mit mehrfach gekrümmten Rückgrad tun. Der DDR- Opportunismus wird so nur durch den BRD-Opportunismus ersetzt.
Wie kann man das verhindern?
Einen Teil der Leute sollte man auf anständige Weise loszuwerden, indem man ihnen eine Existenzperspektive gibt. Sei es, daß man sie in die Pension schicken kann, oder ihnen Arbeit gibt, die nichts mit der Lehre zu tun hat. Die kann man nicht betreiben, wenn man an Religierungen von Studenten beteiligt war. Hier würde ich keine Gnade kennen.
Es gibt aber nun jene, die mit einem Parteiticket auf ihre Positionen gekommen sind oder jene, die in Nischen gedrängt in ihren eigenen Fächern an Qualifikation verloren haben. Was macht man mit ihnen?
Hier spielt die Zeit eine entscheidende Rolle. Gerade dort, wo nicht der politische Charakter eines Wissenschaftlers in Frage gestellt wird, sondern seine inkompetente Graumäusigkeit. Wenn man ihnen die Chance zur Neuqualifizierung gibt, wird sich zeigen, wer kompetent war oder ins Abseits gedrängt wurde. Deshalb plädiere ich auch für Einzelfallprüfung.
Kann dieses Verfahren nicht leicht einen inquisitorischen Charakter erhalten?
Die Gefahr besteht zweifellos. Deshalb muß in den Überprüfungsverfahren öffentlicher Wind wehen. Es darf kein Ausschuß eingesetzt werden wie in der Inquisition, der unter Torturen Geständnisse abzwingt oder immer tiefer in die nicht vorhandenen Akten dringt.
Die Überprüfungen belasten schon jetzt erheblich den Studienbetrieb. Kann man sich die Zeit dafür nehmen?
Denunziationen kann ich auch nicht verhindern. Man braucht klare Regelungen. Die Abwicklung ist nur eine Psydo-Regelung, ein bürokratischen Akt, der Institute abwickelt, aber tatsächlich Menschen trifft. Jeder Student und Mitarbeiter sollte wissen, was passiert mit wem, wann und wo. Und es muß eine sichere Rechtsgrundlage geschaffen werden. Jetzt ist die Humboldt-Universität geradezu gelähmt. Durch das Prinzip Rette-sich-wer-kann tritt eine enorme Individualisierung ein. Im Grunde sind die Leute nicht mehr auf Wissenschaft, Lehre und Forschung fixiert. Das ist doch Jacke wie Hose, was zählt ist, wie man das Hemd bewahren kann.
Der Mut zur Langsamkeit könnte als Mutlosigkeit vor den Problemen interpretiert werden.
Ich habe kein Patentrezept dafür. Vor allem sollte der Experimentcharakter erhalten werden, also daß Regelungen, die sich im Laufe des Prozesses als unsinnig erweisen, aufhebbar sind. Man müßte Gremien schaffen, in denen DDR-Vertreter und eine relevante Minderheit von Wessis sitzen. Deren gemeinsam entwickelte Konzeptionen müßten dann wiederum öffentlich diskutiert werden. Das ist zwar kostenreich und langwierig, aber so könnte am Ende wirklich etwas qualitativ Neues und auch für den Westen Interessantes entstehen. Warum sollte dabei nicht zum Beispiel bei den Juristen ein Reformstudiengang entwickelt werden.
Meinen Sie, daß das mit den vorhandenen Wissenschaftlern und Studenten möglich ist?
Ich würde versuchen, Austauschformen zu finden. Bei den Studenten kann man nur darauf hoffen, indem die Attraktivität der Humboldt-Uni gesteigert wird zum Beispiel durch Experimente in der Sozialwissenschaft. Die Sozialwissenschaft ist hier doch nicht gerade in der Blüte ihrer Jahre, sie welkt...
...wirklich?
Ja, sie stinkt doch förmlich vor sich hin. Es ist doch die Frage, wie kann man heute, den Anforderungen des Jahres '91 entsprechend, Forschungen sinnvoll installieren. Nicht nur Lehrinhalte, sondern auch Lehrformen müssen verändert werden. Die Attraktivität läßt sich doch nicht nur steigern, indem man von außen »hineinmischt«. Es reicht auch nicht, fünf Fachbereiche abzuwickeln und die Naturwissenschaften dabei in ihrem Dreck stecken zu lassen, ohne zu überlegen, wie man den gesamten Bereich neu gestaltet.
Bei dem von Ihnen gezeichneten Bild der West-Unis entsteht der Eindruck, als wollten Sie jetzt, in einer neuen historischen Situation, wieder auflegen, was '68 gescheitert ist.
Die notwendige Aufgabe bei dieser Vereinigung, in der DDR viele Institutionen neu zu gestalten, könnte mit Reformen verknüpft werden. Die Bundesrepublik bietet dafür eine glänzende wirtschaftliche Situation. Aber trotzdem ist der Spielraum für Experimente gebremst. Insofern glaube ich nicht, das eine nachholende Revolution, die ich in der Bundesrepublik nicht mehr stattfinden lassen kann, jetzt über die DDR erreiche. Selbst die mit mir nicht konformen Leute an der Universität müssen doch sehen, in welchen großen Schwierigkeiten sich die Lehre momentan befindet. Ansonsten wäre die Durchfallrate nicht so groß oder hätten die Studenten nicht so viele psychischen Probleme. Wenn wir hier eine von uns allen nicht vorhergesehene Chance kriegen, etwas zu verändern, da finde ich es schade, wenn man die nicht nutzt, sondern abwickelt, erstreckt, gleichschaltet und bundesrepublikanisch arrogant meint, man sei schon auf dem richtigen Weg. Interview: Raul Gerson/
Anja Baum
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