SIZILIANISCHE REISEBILDER

■ Der Mann in der Tür berichtet Vergangenes und entlarvt lächelnd das Heute: steigende Preise, Mißverhältnis zwischen Ernte und Ertrag

Der Mann in der Tür

berichtet Vergangenes

und entlarvt lächelnd das Heute:

steigende Preise,

Mißverhältnis zwischen Ernte und Ertrag

VONCHRISTINEZUPPINGER

Streunende Hunde. Heruntergekommen, in Rudeln umherziehend. Siedlungen, auseinandergerissen von Straßen, zersprengt und liegengeblieben, wie durch Zufall bewohnt. Ich fahre an der Küste entlang nach Palermo. Betonblöcke, in Sand gegraben, stellen sich dem Meer entgegen. Riesige, blau-vergilbte Eisenbrücken ragen in den Himmel, Vergangenes steht in futuristischen Bildern wie fremde Mahnung.

Schwer liegt der Mittag über schmutzstarrendem Schutt der Peripherie. Zwischen Baracken und Blech schieben sich die Türme der Ölraffinerien. Gerade Straßenzüge, modriges Holz gegen Beton, Vögel kreischen hinter Gitterstäben, Käfige, die an Hausmauern kleben, flimmernde Luft in grellem Licht. Auf dem Markt Farben, Geschrei, Gestank von Fleisch, große Messer hacken Riesenfische in Stücke, Schafsköpfe, frisch abgezogen, lächeln sich das Tote ins Gesicht.

Am Straßenrand, an eine Steinmauer gelehnt, steht ein alter Mann. Auf den Bus ist kein Verlaß, seit zwei Stunden schon wartet er. Er lädt mich zu sich ein. Sein Dorf hat noch neun Einwohner von einst zweihundert, die ausgewandert sind in die Schweiz, nach Amerika. Nur im Sommer erinnern sie sich ans Paradies, sagt er. Frauen bündeln wie Schatten Reisig zu Haufen, schleppen Wasser vom Brunnen, der in die Mauer geschlagen ist. Häuser, riegelverhangen.

Der Mann in der Tür berichtet Vergangenes und entlarvt lächelnd das Heute: steigende Preise, Mißverhältnis zwischen Ernte und Ertrag. Eingestampfte Orangen, die wie Korallensäume am Meer entlangziehen; einen Teil fressen die Schafe, der andere wandert ins Meer. Der europäische Markt habe die Preise zerstört, auf den Staat sei kein Verlaß und im Leben ohnhin alles vorbestimmt.

Eine Frau schlägt mit der Sichel den Bambus, der leise in sich zusammenfällt. Gespräche in der Dunkelheit über das Wasser, „aqua“ an Mauern und Lichtmasten eingeritzt, wie ein Schrei zieht es durch das Land. Pinienbewachsene Abhänge, steil ragen sie in den Himmel. Monforte ist wie ausgestorben. Eine alte Frau löst sich aus dem Schatten enger Hausmauern. Mit der Schürze wischt sie sich den Schweiß von der Stirn und erzählt von der Hitze im vergangenen Jahr.

Gesicht und Hals, ein gefaltetes Tuch. Hart stößt der Stock auf den Teer, als sie die Straße aufwärts steigt. Aus engen Gassen trete ich auf den Platz. Eine Bar, „Club on the road“, Spiegel mit amerikanischen Idolen, Grottendach hängt dunkel über dem Raum. Nebenan eine Pizzeria, Stühle mit rosarotem Stoff, Wiener Caféhaus-Stil.

Laternenlicht reißt Umherstehendes aus seinem Dunkel. Auf Kirchentreppen hocken alte Männer, ihr Kinn auf den Stock gestützt. Fast alle tragen Hüte. Ich sehe keine Frau. Dieser Eindruck begleitet mich noch, als ich in der Dunkelheit Pflasterwege aufwärts gehe, dem großen Neonkreuz entgegen, das über das Dorf wacht.

Pellegrino und Ganzirri

Ich will weiter nach Pellegrino. Im abgelegenen Kloster richte ich mich ein. Das Haus oben neben der Klosterkirche, wie eine Ruine steht es da. Manchmal öffnet sich die Tür, eine Frau geht pfeilschnell zum Wäscheseil, nimmt die Wäsche von der Leine, legt ein Stück nach dem anderen auf ihren Kopf und verschwindet.

Viele Männer sind in die Schweiz emigriert und nach Jahren ins Dorf zurückgekehrt. Seither leben auch die Frauen besser, sagt der Pfarrer. Die nackte Not gäbe es nicht mehr. Zwischen Broccoli und Salbei wachsen Rosen, Basilikum und Rosmarin. Hinter dem Zaum liegt gebündelt Holz. Äste von geschnittenen Bäumen werden angezündet, Feuer und Rauch. Blauer Rauch, es gibt ihn wirklich.

Mit Gefäßen pilgern Frauen zur Quelle, die hinter dem Kloster liegt. Mit gefüllten Krügen auf dem Kopf kehren sie zurück, zeichnen das Kreuz auf die Stirn, legen die Finger auf die Lippen zum Gruß für die Madonna. Eine Frau schaut immer wieder auf die Kirche zurück. Leichter Wind, ferne Motorräder, Hundegebell, Stille.

Unter der Eisenbahnbrücke führt mich die Straße am Meer entlang. Fischer werfen Holz ins Wasser, um zu sehen, wie die Strömung ist.

Ganzirri, ein alter Ort, ist in Messina eingemeindet. Die Gans, die mir entgegenkommt, ist zahm und führt mich direkt zu Rosas Haus. Ihre alte Mutter kommt die Treppe herunter und fuchtelt mit ihren Spinnenhänden an sich herum. Der Rücken tut ihr weh, aber ein Arzt käme ihr nicht ins Haus. Sie hätte sich nur vor ihrem Mann ausgezogen. Der war marinaio auf einem großen Schiff; es steht glasüberdacht als Plastikminiatur im Zimmer. Sie zeigt mir in einer Schublade die Glanzpapierhüllen der Bonbons, die er von seinen Fahrten mit nach Hause brachte. Zum Glück war sie nie in Not. Sie habe immer geholfen; das sei so, wenn man in einem Dorf lebt, wo die Männer Fischer sind. Da mußten auch die Frauen laufen, wenn der Sturm kam. Dabei hebt sie den Rock bis übers Knie, um zu zeigen, wie weit sie oft im Wasser stand, um die Boote zu retten.

Rosa steht am Herd und brät Fisch. Jeden Mann, der sie haben wollte, habe sie ausgeschlagen. Die Freiheit sei das Wichtigste. Dabei dreht sie den Fisch in der Pfanne um und schaut zur Mutter. An den Fingern zählt sie ab, wie viele Kinder sie großgezogen hat: die von der Schwester, von der mageren Nachbarin..., mindestens sechs.

Seit es salzloses Wasser zum Waschen gibt, tritt Rosa mehrmals am Tag vor die Haustüre, frisch geduscht und mit neuen Kleidern, ohne weiße Ränder an den Säumen. Wenn sie sich streckt, ist es, als fiele das Salz der letzten Jahre von ihrem Körper.

Messina

Sichelförmig ist der Hafen von Messina. Auf dem Viale Reichtum und überladene Geschäfte wie eine Fata Morgana gegen Armut und Dreck der Vorstadtbaracken. Frauen, glitzernde Masken auf hochhackigen Schuhen, aus den Augenwinkeln ihren Erfolg berechnend. In den Autowerkstätten an den Wänden die Madonna, Sportidole, nackte Frauen und schnelle Autos zwischen dem rostigen Blech.

Messina Due, der neue Wohnblock, ragt über die Eisenbahnbrücke in die Stadt. Ganze Hügelketten werden abgetragen und zu Spekulationsobjekten. Verwischte Grenzen im Gegenüber von Alt und Neu in der Architektur schnell emporgezogener Wohnanlagen, gepreßt in den Vorwand nüchterner Behaglichkeit.

Mitten im Vormittagsverkehr sitzt Vinzenco vor dem Spiegel eines geparkten Autos und rasiert sich. Er kramt im Abfall und lebt von dem, was man ihm freiwillig gibt. Vinzenco bettelt nicht.

In einer Seitenstraße treffe ich täglich auf Rocco. Rocco ist neun Jahre alt. Er hockt am Wegrand, in Fahrradteile versunken. Seine Füße stehen in Gummistiefeln. Neben ihm auf dem Boden eine alte Holzkiste, Strandgut, vom Meer heraufgeschleppt. Sie enthält Gummischläuche, Nägel, Blech. Manchmal fehlt ihm ein Ersatzteil, nach dem er am Hafen tagelang sucht.

Die ganze Umgebung bringt ihre Räder zu Rocco. Nachts veranstaltet er Slalomläufe um Coca-Cola-Büchsen, deren blechernes Geräusch Bewohner aus dem Schlaf reißt. Später möchte Rocco Magier werden wie sein Vater. Die Gaben hätte er schon, sagt dieser.

Fernsehantennen springen in den Himmel. Am Piazza Cairoli Trauben von Jugendlichen, Pullover um den Hals geworfen, eng in Hosen stehend, neueste Mode.