piwik no script img

Nur bemooster Idealismus?

■ Das Jugendtheaterprojekt Bremerhaven inszeniert “Liebe Jelena Sergejewna“

Die SchülerInnen: Vitja (Cato Restorff), Ljalja (Christiane Ratschow) und Volodja (Arne Gerhard) Foto: Fleck

Auf der Bühne stehen vier Jugendliche und eine Erwachsene. Jelena Sergejewna ist Lehrerin. An ihrem Geburtstag bekommt sie unerwartet Besuch von ihren SchülerInnen. Drei Jungen, ein Mädchen, 16jährige aus der Abschlußklasse. Sie fordern von ihrer Lehrerin Einsicht in die schriftlichen Prüfungsarbeiten, die einige von ihnen verhauen haben. „Liebe Jelena Sergejewna“,

hier die beiden Männer,

die eine Frau

festhalten

das in der Sowjetunion mit großer Resonanz aufgenommene Stück der Dramatikerin Ljudmila Rasumowskaja, hatte am Freitag im Kleinen Haus des Stadttheaters BHV Premiere.

Das Stück ist die achte Produktion des Jugendtheaterprojekts, das unter der Leitung des Lehrers Peter Koettlitz seit sechs Jahren in Bremerhaven einige der sehenswertesten Inszenierungen vorlegte. Wie in seiner ersten Inszenierung —“Klassen Feind“ von Nigel Williams — beschäftigt sich Koettlitz wieder mit unmittelbarer Schulwirklichkeit. Diesmal geht es um karrierebewußte Kinder einflußreicher Familien aus der sowjetischen Oberschicht. Sie setzen ihre Lehrerin mit sanfter Erpressung und harter Drohung unter Druck. In einer gelungenen Eingangssequenz zeigt Koettlitz die geschmackvoll eingerichtete künstliche Welt einer ihrem Beruf als Berufung verpflichteten Pädagogin.

Die Jugendlichen, die zuerst mit teuren Geschenken ihre Moral brechen wollen, werden an den Tisch gebeten, um mit ihr zu speisen. Eine fast stumme, lang gehaltene Szene, der die kommende Zerstörung schon eingeschrieben ist. Am Ende des Stücks sind die Beziehungen aller zwischen allen zerbrochen. Jelena gibt den Schlüssel zum Tresor, in dem die ungeliebten Arbeiten liegen, heraus, als die Schüler eine Vergewaltigung ihrer Mitschülerin Ljalja vortäuschen.

Koettlitz inzeniert „Liebe Jelena Sergejewna“ als 100 Minuten langes Pschodrama. Zusammengehalten wird es von einer souverän agierenden Susanne Schwan. Die junge Schauspielerin des Stadttheater-Ensembles zeigt die Lehrerin Jelena in allen Schattierungen: Pädagogische Leidenschaft, private Vereinsamung und altjüngferlicher Charme liegen in ihrer Figur.

Die jugendlichen Laien haben es schwer, dagegen anzuspielen, zumal die Autorin die männlichen Rollen bis ins Formelhafte typisiert hat. Am stärksten ist Christiane Ratschow als Ljalja. Halb Kind, halb Erwachsene, spielt sie die unausgegorene junge Dame im enganliegenden Kostüm, die ein irgendwie angenehmes Leben sucht, ohne genau zu wissen, was sie sucht. Am Ende muß sie erkennen, daß die Männer, ihre eigenen Freunde, nicht nur Jelena, auch sie selbst längst zum Opfer gemacht haben.

Der Schluß bleibt offen. Jelena antwortet nicht mehr, als Ljalja nach ihr ruft, aber die Jugendlichen ahnen vielleicht, daß die Suche der Lehrerin nach dem „menschlichen Antlitz“ ihrer SchülerInnen mehr war als „bemooster Idealismus“. hans happel

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen