: Erneuerter Wille
■ LitauerInnen haben den Willen zur Unabhängigkeit dokumentiert
Vor den Schüssen von Vilnius hing der Haussegen in Litauen eigentlich ziemlich schief. Eine gewisse Ernüchterung über die durch die Perestroika verschafften politischen Möglichkeiten hatte sich schon breit gemacht. Unter den litauischen Parlamentariern wurde heftig über die Wirtschaftsreform gestritten, wie in anderen ehemals kommunistisch verfaßten Gesellschaften stieß auch hier die reale Reformpolitik auf Widerstand. Regierungschefin Prunskiene war nicht nur wegen ihres „Schritt für Schritt“-Verhandlungskurses gegenüber der Zentrale in Moskau unter Druck geraten, sondern auch, weil ihre Regierung notwendigen Subventionsabbau betrieb. Die Preiserhöhungen waren sogar Anlaß für Demonstrationen, die zwar vor allem von der russischsprachigen Minderheit getragen wurden — unter den besonders betroffenen unqualifizierten ArbeiterInnen sind viele Russen — doch auch in der litauischen Gesellschaft grummelte es. Die Lebensverhältnisse hatten sich selbst unter einer von Litauern (!) geführten Regierung verschlechtert. Ihr Ansehen sank, weil die Wirtschaftsblockade und die Eingriffe der Moskauer Ministerien in die hausgemachte Wirtschaftspolitik immer weniger als Entschuldigung für die Misere plausibel waren.
Sicherlich hat neben dem „Windschatten“, den der Golfkrieg bot, auch diese Stimmung die Moskauer Zentrale dazu verleitet, die Zügel gegenüber den „Seperatisten“ anzuziehen. Offenbar hatten sie mit einer Solidarisierungswelle, wie sie nach den Schüssen von Vilnius sichtbar wurde und sich nun direkt im Abstimmungsverhalten niederschlug, nicht gerechnet. Auch nicht damit, daß ein beträchtlicher Teil der russischen Einwanderungsbevölkerung eine unabhängige litauische Reformpolitik einer gesamtsowjetischen Stagnation vorzieht. Und da selbst die polnische Minderheit — wenn auch mit einigem Zögern — nach den Gewaltakten die litauische Unabhängigkeit unterstützt, verfügt die Zentrale über nur eine kleine politische Anhängerschar in der Republik. Mit der Abstimmung hat die überwältigende Mehrheit der gesamten Bevölkerung Litauens vor aller Welt eindeutig und klar ihren Willen dokumentiert, sich aus der Sowjetunion zu lösen. Und dieses Votum ist weder vom Westen noch von der sowjetischen Führung zu übersehen.
Trotzdem bleibt ungeklärt, wie und zu welchem Zeitpunkt die staatliche Souveränität Litauens erreicht wird. Solange die Zentrale an ihrem Kurs, die Einheit der Union zu ihren Bedingungen durchzusetzen, mit aller Macht, auch der militärischen, festhält, könnte nämlich das Abstimmungsergebnis wirkungslos verpuffen. Die für März geplante Volksabstimmung über den Unionsvertrag in der gesamten Sowjetunion ist ein Silberstreif am Horizont. Angesichts der unfairen Fragestellung, die allein die Einheit zementieren soll, bilden mehrere Republiken jetzt schon eine Ablehnungsfront. Erich Rathfelder
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