: „Der Golfkrieg, der am 2.August begann“
■ Neue und alte Publikationen über die arabische Welt/ Zahlreiche Standardwerke liegen nur in der Sprache der ehemaligen Kolonialmächte vor
„Der Golfkrieg, der bereits am 2.August begann...“ Dieser Satz schleicht sich immer häufiger in die aktuelle Berichterstattung ein. Nun wissen wir, daß bis zum 16.Januar allenthalben von der Golfkrise und nicht vom Golfkrieg die Rede war, oder, bezogen auf den militärischen Jargon, von der „Aktion Wüstenschild“ und nicht vom „Wüstensturm“.
Wer heute den oben zitierten Satz verwendet, bezieht im aktuellen Konflikt eine politische Position, die letzendlich besagt, daß die derzeitige Katastrophe die mehr oder weniger zwangsläufige Konsequenz des irakischen Einmarsches in Kuwait ist. Einer solchen Lesart zufolge kann es sich bei der Äußerung der US-Botschafterin in Bagdad, April Gaspie („unsere Seite hat keine Meinung zu innerarabischen Konflikten“), nur um einen möglicherweise folgenschweren Ausrutscher gehandelt haben.
Diese Auffassung teilen aber nicht die beiden Autoren des Buches La Guerre du Golfe — Le Dossier Secret, das Mitte März auch in deutscher Sprache vorliegen wird. Man kann schwerlich Pierre Salinger oder Eric Laurent vorwerfen, sie würden die Dinge durch eine antiamerikanische Brille sehen. Beide sind Journalisten; der eine war Sprecher Kennedys und arbeitet heute für ABC, der andere für die französische Tageszeitung 'Figaro‘. Sie behandeln die Vorgeschichte des Krieges und zeichnen den Ablauf der Ereignisse von der Invasion in Kuwait, dem US- Truppenaufmarsch, den Druck auf verbündete Regierungen und die Absegnung der US-Politik durch die verschiedenen UN-Resolutionen nach.
Die Darstellung von Salinger/ Laurent erlaubt zumindest den Zweifel an der offiziellen Darstellung und Interpretation der Ereignisse seit letzten Sommer. Dabei bleibt es dem Leser überlassen, eigene Schlußfolgerungen zu ziehen: ob also die USA den Krieg von vorneherein anstrebten oder ob die Administration in Washington sich aus einem Geflecht von Ungeduld, Mißverständissen und Fehleinschätzungen in eine schließlich nicht mehr umkehrbare Lage heineinmanövrierte. Anders gesagt: ob der Friede nicht doch eine Chance gehabt hätte, ohne Saddam Hussein deswegen freie Hand zu lassen.
Es liegt in der Natur der Sache, daß bislang noch keine aktuellen Publikationen über den Golfkrieg auf dem Büchermarkt vorliegen. Über den Golfkonflikt mit seinen verschiedenen Aspekten gibt es dagegen zwei, zudem preiswerte, Veröffentlichungen: Ein von Bahman Nirumand herausgegebenes rororo-aktuell-Bändchen mit dem Titel Sturm im Golf — Die Irak-Krise und das Pulverfaß Nahost sowie eine Ausgabe der Zeitschrift 'Der Überblick‘ mit dem Schwerpunkt Golf. Beide greifen unterschiedliche Aspekte auf: die wirtschaftlichen Hintergründe des irakischen Überfalls auf Kuwait, die Aufrüstung des Nahen Ostens, arabische Identität und Religion oder die Arbeits- und Lebensbedingungen in der Region auf.
Aus dem 'DÜ‘-Heft, das von der evangelischen Arbeitsgemeinschaft Kirchlicher Entwicklungsdienst herausgegeben wird, mögen einzelne Beiträge auch zur Debatte anregen. Beispielsweise die Interpretation des Konflikts durch Dan Diner, der, was eine künftige Regelung des israelisch-palästinensischen Konflikts anbelangt, in einer international gestalteten Friedensordnung neue Chancen sieht. Das nächste Heft von 'DÜ‘ wird sich mit der Situation Israels, seiner Nachbarn und der Palästinenser befassen.
Zum Verständnis anderer Sichtweisen
Wer sich vor dem Hintergrund des Krieges erstmals mit der inneren Verfassung der arabischen Welt vertraut machen möchte, sollte zu dem 1989 bei Schöningh erschienene Buch des Nahostkorrespondenten der 'Neuen Züricher Zeitung‘, Arnold Hottinger, greifen. Bereits der Titel, Die Araber vor ihrer Zukunft — Geschichte und Problematik der Verwestlichung verweist auf eine aktuelle Problematik.
Die Lektüre dieses Buches empfiehlt sich gerade in einer Zeit, in der der Krieg am Golf gelegentlich als „Kampf der Aufklärung gegen den Islam“ bezeichnet wird, wobei leider nur zu häufig Jahrhunderte alte Vorurteile und Ängste geschürt werden. Hottingers gut lesbares Buch kann da Interessierten Phänomene nachvollziehbar machen, die hierzulande als befremdlich erscheinen mögen, etwa im Zuge des Golfkrieges zutage tretende antiwestliche Stimmungen oder der Zulauf für fundamentalistische Strömungen.
Er verweist dabei auf das immer schnellere Tempo der Verwestlichung und die Problematik eines „imitativen“ und nicht „kreativen“ Fortschritts sowie die Kluft, die dadurch innerhalb der einzelnen Gesellschaften aufgerissen wird. Der Autor führt aus, daß sich die Hoffnung auf eine Veränderung im Zuge der Übernahme der „Modernität“ nicht erfüllt hat. Vorbedingung für einen richtig verstandenen Fortschritt ist für Hottinger die Überwindung der „Einmann-Regimes“ durch eine Partizipation der Bevölkerung, um eine kreative Beteiligung an der modernen Welt überhaupt erst zu ermöglichen, die sich nicht in den Gegensatz zur eigenen Kultur und Tradition stellt.
Denjenigen, die andere Sichtweisen näher kennenlernen möchten und ein historischen Interesse mitbringen, sei das 1983 im Popyläen-Verlag erschienene Buch von Bernard Lewis, Die Welt der Ungläubigen — Wie der Islam Europa entdeckte zu empflehlen. Es behandelt nicht nur gegensätzliche Einschätzungen ein und derselben Ereignisse wie der Schlacht von Tours und Poitiers im Jahre 732, die in unserer Geschichtsschreibung als der entscheidene Sieg Karl Martells über die Heere des Islam gilt. Darüber hinaus geht er ausführlich auf die Geschichte der Kontakte und auch der Vermittler zwischen West und Ost ein.
Wer sich schließlich über den Islam informieren möchte, kann auf eine Fülle von Literatur zurückgreifen. Empfehlenswert ist unter anderem das im letzten Jahr erschienene Reclam-Bändchen von Annemarie Schimmel, Der Islam.
Kaum deutschsprachige Literatur über den Irak
Sucht man allerdings vertiefende Literatur über ein Land wie den Irak, so muß man häufig auf die Sprache der ehemaligen Kolonialmächte in der Region zurückgreifen. Zahlreiche hervorragende Fachbücher liegen nur in Französisch oder Englisch vor, und es ist zu hoffen, daß deutsche Verlage wie im Falle des Buches von Salinger/Laurent nun verstärkt auch diese Standardwerke in deutscher Sprache herausbringen werden. Von dem umfangreichen, 1978 erschienenen Klassiker über den Irak, The Old Social Classes and the Revolutionary Mouvements of Iraq von Hanna Batatu, der in jedem Fachbuch zitiert wird, gibt es bisher keine Übersetzung.
Erfreulich ist da, daß ein zweites Standardwerk für den Frühsommer bei Edition Suhrkamp angekündigt ist: Iraq since 1958 — From Revolution to Dictatorship von Marion Farouk-Sluglett und Peter Sluglett. Die beiden Wissenschaftler haben einen materialreichen und fundierten Abriß der politischen und wirtschaftlichen Geschichte des Irak vorlegt, wobei sie sich auf die Periode der Herrschaft der Baath-Partei konzentrieren. Die Ideologie der Partei wird ebenso behandelt wie die Situation der Kurden, die Rolle der kommunistischen Partei oder die Spaltungen innerhalb der schiitischen Gemeinschaft des Landes.
Auch für das Buch des Exilirakers und Wissenschaftlers Samir al-Khalil, Republic of Fear, dürfte es nur eine Frage der Zeit sein, bis es in deutscher Sprache vorliegt. Dieses hervorragende Werk beschränkt sich auf die jüngere Geschichte des Irak und damit auf die Periode Saddam Husseins. Anders als das umfassender angelegte Buch der Slugletts konzentriert sich der Autor auf die Herausbildung des politischen Systems, das der Irak heute verkörpert, und das auf institutioneller Gewalt, Terror und Angst beruht. Er führt aus, in welchem Ausmaß dieses System auf die Person Saddam Husseins zugeschnitten ist, und welche Folgen dies nach sich zieht, etwa am Beispiel des iranisch-irakischen Krieges. Wer versuchen möchte, sich mit den Motiven und Beweggründen Saddam Husseins auseinandersetzen, sollte dieses Buch unbedingt lesen.
Zur Lage in Palästina und in Kurdistan
Keine Sprachprobleme werden diejenigen haben, die sich mit anderen Einzelaspekten der gegenwärtigen Situation auseinandersetzen wollen: dem israelisch-palästinensischen Konflikt und der Kurdenfrage.
Wer auch schwierigere Texte nicht scheut, kann nach wie vor zu dem 1980 erschienen Buch Dan Diners, Israel in Palästina — Über Gewalt und Tausch im Vorderen Orient, greifen. Weniger grundsätzlich und leichter lesbar, aber ebenfalls empfehlenswert ist das im Rotbuch-Verlag erschienene Taschenbuch Intifada — Aufstand der Palästinenser von Alexander Flores.
Auf eine Übersetzung wartet dagegen bis heute noch das Standardwerk von David Hirst, The Gun and the Olive Branch — The Roots of Violence in the Middle East, das seit 1984 in einer aktualisierten Ausgabe vorliegt.
Was schließlich Kurdistan, ein Thema, das häufig nur auf marginales Interesse stößt, anbelangt, so kann man unter anderem auf zwei Bücher hinweisen, die ebenfalls von fremdsprachlichen Autoren stammen. Kurdistan und die Kurden, herausgegeben von Gerald Chaliand, wurde 1984 von der „Gesellschaft für bedrohte Völker“ in Göttingen in deutscher Sprache vorgelegt. Neben einem Abriß kurdischer Geschichte im Osmanischen Reich wird die Situation der Kurden in der Türkei, dem Irak und dem Iran behandelt; auch ihre Lage in der Sowjetunion und Syrien wird gestreift. Dabei kommen auch kurdische Politiker wie der in Wien ermordete Abdelrahman Ghassemlou zu Wort.
Dem Berliner Institut für Vergleichende Sozialforschung schließlich ist es zu verdanken, daß ein bereits 1978 abgeschlossener Klassiker über Kurdistan sechs Jahre später auf Deutsch erschien. Agha, Scheich und Staat — Politik und Gesellschaft Kurdistans von Martin van Bruinessen wurde in der Fachliteratur im englischen Orginal immer wieder zitiert, obwohl es bis dahin nie als Buch erschienen war. Die umfangreich angelegte sozialwissenschaftliche Untersuchung, die auf eigener Feldforschung basiert, vermittelt einen tiefen Einblick in die Struktur der kurdischen Gesellschaft, der weit über die Geschichte und Politik der einzelnen kurdischen Organisationen hinausreicht und diese letztendlich erst erklärt. Für jeden, der sich mit Kurdistan beschäftigt, ist diesen Buch ein absolutes Muß. Beate Seel
Pierre Salinger/Eric Laurent: Krieg am Golf, Frankfurt 1991;
Bahman Nirumand (Hrg.): Sturm im Golf, Hamburg 1990;
Der Überblick, Dezember 1990, zu beziehen über: Dienste in Übersee, Postfach 100340, 7022 Leinfelden- Echterdingen;
Arnold Hottinger, Die Araber vor ihrer Zukunft, Schönigh, 1989;
Bernard Lewis, Die Welt der Ungläubigen, Propyläen, 1983;
Annemarie Schimmel, Der Islam, Reclam, 1990;
Hanna Batatu, The Old Social Classes and the Revolutionary Mouvements of Iraq, Princeton University Press, 1978;
Marion Farouk-Sluglett/Peter Sluglett, Iraq since 1958, London 1987;
Samir al-Khalil, Republic of Fear, University of California Press, 1989;
Dan Diner, Israel in Palästina, Athenäum, 1980;
Alexander Flores, Intifada, Rotbuch, 1988;
David Hirst, The Gun and the Olive Branch, London 1984;
Gerard Chaliand (Hrg.), Kurdistan und die Kurden, Göttingen 1984;
Martin van Bruinessen, Agha, Scheich und Staat, Berlin 1989;
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