: Die roten Schuhe
■ Die Gesangskomponistin und Assoziationstechnikerin Shelly Hirsch
Shelly Hirsch komponiert Geräusche. Alles, was einen hörbaren Ausdruck hat, taucht in ihrer Arbeit auf. Sie verwertet alles, was in Sprache oder vom Menschen mit Stimme nachgeahmt und wiedergegeben werden kann. Ihre Musik ist zusammengesetzt aus Alltag und Raum. Die Komposition ist die Verknüpfung. Tierstimmen und Meerwasser, das sich am Strand bricht, Vögel und einbrechendes Eis, alle möglichen Sprachen und Dialekte, Musik, die von der Straße in die Mansarde dringt und umgekehrt, tropfendes Wasser und abgesägtes Holz, Walzerrhythmus und Kinderlieder und die gedrückte Stimme des Lügners und der jüdischen Geisha kommen in ihrer Musik genauso vor wie das Öffnen von Dosen und die Leidenschaft, mit der Italiener im 16. Jahrhundert sich beim Schreien aus der verständlichen Sprache herausbewegten. Sie schreit, sie gurrt, sie atmet ein und aus, sie klopft sich auf die Brust, um ihrem Atem einen Rhythmus zu geben, sie gluckst, sie schluckt, sie lacht und weint.
Shelly Hirsch hat ein nahezu bildliches Verhältnis zu allem Akustischen: »Wenn ich ein Geräusch höre, erinnert es mich an ein Bild oder umgekehrt, wenn ich etwas betrachte, inspiriert es mich zu einer bestimmten Art von Gesang. Als ich klein war, hatte ich eine kleine rote Samtschleife und die mußte über meinem Bett hängen, damit ich sie immer anfassen konnte. Meine Mutter mußte mir verschiedene Mützen aufsetzen, sie sagte, daß sie einmal sogar meinen ganzen Kopf eincremen und einreiben mußte. Ich ging immer auf Leute zu, berührte ihre Haare oder ihre Mäntel, wenn es Pelzmäntel waren, und ich glaube, das ist auch ein wichtiger Teil meiner Musik. Der Grund, warum ich so singe, wie ich singe, hat viel mit meiner Liebe zu Oberflächen und Farben und Konsistenzen zu tun.«
Nicht nur der Bildinhalt der Sprache ist ein Element ihrer Gesangskomposition, auch der Sprachrhythmus. Vor allem, wenn sie Texte auf die »Stream-of-Consciousness-Art« singt, wenn sie also singt, was ihr gerade einfällt, wenn sie die Sprache dabei als rhythmisches Element benutzt. »Der Grund, weshalb ich oft auf verschiedene Arten und Weisen singe, liegt darin, daß ich wirklich merke, wie ich durch einen veränderten Akzent — und das ist ja Rhythmus — auch anders denke. Andere Gedanken werden gesprochen und ich habe andere Möglichkeiten, mich auszudrücken, ich habe andere Sprachbilder. Die Art also, wie sich der Körper bewegt, wie sich die Kehle zusammenzieht, die Resonanz der Sprache im Kopf und im Mund, bringt verschiedenes Material hervor.«
Singen ist für Shelly Hirsch eine sinnliche Betätigung, sie möchte das Sinnliche jedoch auch gerne in das Intellektuelle übertragen. Das intellektuelle Moment ist die Umwandlung eines Bildes in einen Ton, der die Möglichkeit eines neuen Bildes oder eines neuen Tones in sich trägt. Dabei kommt es ihr immer auf den Standpunkt an, auf den Moment der visuellen, akustischen und sensuellen Eindrücke, denen jeder in jedem Moment ausgesetzt ist und über deren Veränderung Wahrnehmung beeinflußbar ist: »Eine jüdische Frau japanische Gedichte aufsagen lassen, die Umgebung ändern, neue Kontexte herstellen, jemanden aus einem Zusammenhang herausnehmen und ihn etwas tun lassen, was man so nicht erwarten würde, das ist die Essenz.«
Nicht großartige soziale Veränderungen sind angestrebt, sondern ein flexiblerer oder verspielterer Umgang mit dem Alltag. Ihre Improvisationen spiegeln und erweitern Alltagserfahrungen. Um genauer zu erfahren, wie Assoziations- und Improvisationstechniken funktionieren, erzählte ich ihr, daß sie in der letzten Performance, die ich gesehen habe, immer wieder »rote Schuhe« sagte. Sie fragte mich, ob ich den Film Die roten Schuhe meinte. Nein, sagte ich, in der Performance erwähntest du einfach immer wieder rote Schuhe. »Oh, die sind mir dann einfach eingefallen. Ich weiß nicht, warum. Ich dachte an Rot und an Reflektionen, und dann kam es einfach. Es ist lustig, daß du es erwähnst, weil in diesem anderen Stück über meine Kindheit, das ich gemacht habe, erzähle ich, daß ich auf meinem Bett liege mit dieser Familie. Sie wohnten in einem kleinen Haus und in ihrem Wohnzimmer stand ein riesiges Bett. Darauf schliefen sie auch. Der Vater war ungefähr sechs Monate im Jahr zu Hause. Er sprach sieben Sprachen. Ich erzähle, wie er auf diesem Bett liegt und neben ihm seine Beinprothese. Überall im Zimmer waren Stapel von Zeitungen und ich erinnerte mich daran, wie ich mit ihnen auf dem Bett lag und den Film Die roten Schuhe im Fernsehen sah. In der Performance kann das durch alles mögliche ausgelöst worden sein. Ich kann an eine Farbe gedacht haben, ich kann auf meine Schuhe geguckt haben, es kann durch den Rhythmus ausgelöst worden sein, ich habe vielleicht ‘ouwd ouwd‚ gehört und das wurde ein ‘red‚ und das ein ‘uh‚ und das wurde ein ‘shoe‚.« Waltraud Schwab
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