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Keiner wirft den ersten Stein

■ Eine Gesprächsrunde zum Thema »Erfahrung mit Zensur« — Ein Bericht von André Meier

Die Zensur ist, da ihre vermeintliche Inkarnation, der ehemalige Stellvertretende Kulturminister Klaus Höpcke, die politische Bühne noch nicht verlassen hat, zum Thema journalistischer Betrachtungen und strafrechtlicher Aktivitäten geworden. Doch in den Diskussionen ist auf der Suche nach den wahren Tätern und den wahren Opfern ist der Blick für die subtilen Mechanismen, die Zensur in der DDR ermöglichten, auf der Strecke geblieben. Das Bestreben, mit einem neuen Nürnberg, mit dem Benennen und Verdammen der »Haupt-DDR-Verbrecher«, die realsozialistische Vergangenheit auf den Müll der Geschichte zu karren, um mit den Mitläufern verschiedenster Couleurs zur Tagesordnung überzugehen, verleiht der Auseinandersetzung jene scheinbare Objektivität, die sich nach genauerer Betrachtung nur als eine vom tagespolitischen Diskurs bestimmte Oberflächlichkeit erweist. Genau dieser Logik wollten die Veranstalter der Gesprächsrunde »Erfahrung mit Zensur« im »Haus-Drama« nicht folgen.

Zwar lud der Literaturprofessor Frank Hörnigk mit den Autoren Horst Drescher, Klaus Schlesinger, Brigitte Struzyk, Johannes Jansen und Richard Pietraß, den Lektoren Günther Drommer, Peter Böthig und dem »Oberzensor« Klaus Höpcke genau jene Mischung von Ex-DDRlern an einen Tisch, die zum Teil, rechnet man den im Publikum sitzenden Joachim Walther dazu, auch in den 'Spiegel‘-Opfer- Täter-Charts fordere Plätze belegen, doch blieb das von den (West-)Journalisten erwartete große Schlachten aus. So sprang auch nach gut zwei Stunden Diskussion einer von ihnen empört auf und entrüstete sich mit der bemerkenswerten Frage: »Was haben sie hier für eine merkwürdige Revolution gemacht, daß sich die Opfer ganz unbekümmert mit den Tätern zu einer Plauderrunde versammeln können?« Worauf Klaus Schlesinger, einer der neun 1979 aus dem Schriftstellerverband der DDR ausgeschlossenen Autoren, nur erwiderte: »Warum ich hier mit Höpcke an einem Tisch sitze, werden Sie nie verstehen, und ich werde es ihnen auch nie erklären können.«

Zuvor hatte Schlesinger, wie alle geladenen Gäste, die Frage nach seinen Erfahrungen mit der Zensur beantworten dürfen. Und wie Hein und Pietraß erzählte auch er Anekdoten. So die von seinem ersten Besuch im Hinstorff-Verlag, als der Lektor Kurt Batt ihn zum Fenster seines Arbeitszimmers führte und mit den Worten: »Das ist die Aussicht eines Lektors« auf die Hinterfront des Rostocker Stasi-Gefängnisses deutete. Oder die über einen Roman, der nicht erscheinen durfte, weil der Name Trotzki darin auftauchte und Schlesinger sich beharrlich weigerte, der Empfehlung Höpckes zu folgen, die entsprechenden Passagen zu streichen. Sicher hat auch Schlesinger als Lektor Tucholskys und Frischs Werke so zusammengestellt und begutachtet, daß die Hauptverwaltung Verlage des Kulturministeriums ihrem Erscheinen zustimmte, hat als Autor beim Schreiben »innere Zensur« ausgeübt, hat die »Scheiße selber produziert und gemerkt, daß es sozialistischer Realismus war«. Aber die Frage, wie lange man wie weit ging, war, so der Autor, eine Frage des Charakters.

Richard Pietraß, Lyriker und ehemaliger Redakteur der Literaturzeitschrift 'Temperamente‘, ist weit gegangen. Da er »nicht das nötige Maß an Anpassung aufbrachte, um als Redakteur zu bestehen«, ist ihm bei 'Temperamente‘ gekündigt worden, und Pietraß mußte fortan von den Gedichten leben, die er selber schrieb. In seinem Band Notausgang, so der Lyriker, wurden acht von 64 Gedichten gestrichen. Er strich sie selbst, in der Hoffnung, »daß sie wie verirrte Schafe in der Nachauflage zur Herde zurückkehren würden«. Was Pietraß beschreibt ist einer von vielen Kompromissen, die in ihrer Summe das System am Leben hielten, die Zensur erst ermöglichten. Wenn das Kulturministerium vom Verlag forderte, fünf Gedichte zu streichen, der Lektor dem Autor vorschlug, auf zwei zu verzichten, und dieser dann die politisch waghalsigsten in eigener Regie eliminierte, um die restlichen, mit linientreuen Interpretationshilfen versehen, durchzubringen, wer war dann der Zensor? Pietraß, sich dieser fatalen Logik nicht bewußt, verweist mit sächsischem Dialekt stolz auf einen »persönlichen Feind im ZK« und auf Gedichte, die schon Mitte der siebziger Jahre seine Sehnsucht nach der deutschen Einheit artikulierten, obwohl »der Verstand die Teilung akzeptierte«.

Von Zensur will Christoph Hein nicht sprechen, das Wort ist belegt. Was in der DDR praktiziert wurde war schlimmer, facettenreicher, war »Kulturpolitik«. Und doch war es für seine Generation schon wesentlich leichter, mit ihr zu leben, als für die, die in den Jahren zuvor veröffentlichen wollten. Zu denen gehört Horst Drescher. Der Autor, der schon nach Erscheinen seines ersten Werks mit einem Bann belegt wurde, konnte fast fünfundzwanzig Jahre lang nur einige Essays veröffentlichen, und selbst die wurden, wie das über den Dresdner Künstler Wilhelm Rudolph, von Provinzfunktionären scharf attackiert. Aus seinem Bericht klingt der Zorn eines Mannes, dem der kulturpolitische Repressionsapparat das Leben zerstört hat.

Das Täter-Opfer-Modell hält Hein für »zu pathetisch«, denn »es wurde alles von allen mitgetragen«. Hein, um dessen Buch Horns Ende es zwischen ZK und Kulturministerium zu Unstimmigkeiten kam, wie Höpcke zu beteuern versuchte, sieht nicht in der direkten Zensur das eigentliche Problem. Für ihn bestand die Gefahr eher darin, daß er als Autor durch die Zensur »fremdgeleitet wurde«, daß er Texten im Wissen um die Zensur und die Erwartungshaltung des Publikums einen politischen »Drall« verlieh. Gerhard Dahne, der jetzt als Verleger die Geschicke des Kinderbuchverlags in Ost-Berlin lenkt, war vor elf Jahren selber Zensor. Er erzählt von der Zeit, als ihn Höpcke zum Abteilungsleiter Belletristik der Hauptverwaltung Verlage ernannte, die früher in diesem Haus in der Clara-Zetkin-Straße residierte. Seine war eine von vier Abteilungen in der, so der Ex-Zensor, »wir uns bemühten, mit befreundeten Lektoren Höpcke auszutricksen, aber der war schon immer schlau und hat es aufgedeckt«. Was soll man nun aber von jemandem halten, der das Ganze als Spiel beschreibt, bei dem der Ausgang ohnehin bekannt war, da »die Stasi in jedem Verlag ihren Menschen hatte und das ZK ohnehin viel eher die Berichte erhielt«? Sicher ist, auch er war kein Täter, aber ein Opfer? »Die Schuld ist verteilt, niemand war verpflichtet, hier durchzuhalten«, sagt der Abteilungsleiter mit Blick auf seinen früheren Chef, und: »Ich hatte nach der Biermann- Geschichte einen Herzinfarkt und bin gegangen.«

Höpcke hatte keinen Infarkt und ist geblieben. Warum? Der Mann, der als Oberzensor in den Medien gehandelt wird, kann es auch nicht sagen. Eigentlich sei er »schon 1965 gegen die Zensur gewesen« und habe als Redakteur im 'Neuen Deutschland‘ in einem Artikel dagegen geschrieben. Doch der erschien nie. Dafür wurde der Redakteur Buchminister, und glaubt man ihm, so allein, um die Zensur abzuschaffen, die eigentlich für ihn seit den sechziger Jahren politisch nicht mehr notwendig war. Also kämpfte sich der Mann gegen den Widerstand des ZK seiner Partei diesem Ziel entgegen. Und warum die Trotzki-Streichungen, Herr Höpcke? »Diese Stellen wären uns nicht gestattet gewesen«, so der Ex-Minister, aber schließlich wurde ja »die Zensur abgeschafft«. Und eigentlich hätte sich Höpcke »mehr Autoren gewünscht, die keine Streichungen zuließen«; so hat es leider bis zum Januar 1989 gedauert. Höpcke dankt den Schriftstellern, die auf ihrem 87er Kongreß die Abschaffung der Zensur gefordert haben, und räumt ein, daß seine Schuld vielleicht darin besteht, daß er im Amt geblieben ist. Auch dieser Mann hat nur das Beste gewollt, und was unterscheidet ihn von seinem jüngsten Widersacher Joachim Walther, mit dem er nach der Diskussion am kalten Buffet Erinnerungen austauschte?

Walther hat im 'Spiegel‘ über das 1979er »Tribunal« berichtet, auf dem die neun Schriftsteller wegen ihres Protestes gegen die SED-Kulturpolitik aus ihrem Verband gefeuert wurden. Der »Chronist Walther« stimmte dagegen, leistete mit zehn anderen Autoren in einer Wohnung Trauerarbeit und blieb im Verband. Christa Wolf, Ulrich Plenzdorf, Christoph Hein und andere schrieben damals Protestbriefe, Joachim Walther zehn Jahre später seine Abrechnung mit Kant und Höpcke. An diesem Abend verliest er ein Neubrandenburger Stasi-Dokument, in dem, unter Berufung auf Höpcke, die Modalitäten für die Überwachung von Lesungen »feindlich-negativer« Autoren aufgelistet wurden. Höpcke beteuert, daß er dieses Dokument nie unterschrieben und nie gesehen habe, und Walther setzt sich wieder. Ob auch der 'Spiegel‘-Autor zensiert wurde, erfährt man im Haus-Drama nicht. Aber vielleicht gab es da auch nichts zu zensieren, schließlich wurde sein 1975 erschienenes Kerouac-On-the-Road-Surrogat Ich bin nun mal kein Yogi sogar von der DEFA verfilmt. »Natürlich bin ich unzufrieden, aber bei mir zu Hause sind die Unzufriedenen keine verfolgten Gegner. Verändern ist kein Schreckenswort, bei dem man Wasserwerfer auffährt, das steht tagtäglich in den Zeitungen, obwohl die einen auch nicht gerade vom Hocker reißen«, läßt Walther da auf Seite 160 seinen jugendlichen Helden einer holländischen Tramperin vor der türkischen Grenze erklären und findet sogar noch einen vermeintlichen Dreh, um dem Leser plausibel zu machen, warum dieser junge DDRler nicht einfach mit ihr ziehen und abhauen kann: »Klar, ich möchte gern nach Indien oder Frankreich, das werd' ich wohl immer wollen, aber ich begreif' auch langsam, warum ich es nicht kann. Es geht gar nicht um mich. Manche Grenzen trennen eben nicht nur Länder.« Hätte Höpcke nur Walther gelesen, dann hätte er vielleicht den jungen Jansen nicht enttäuscht, der Jahre später über die Mauer-Argumentation des Buchministers stolperte.

Johannes Jansen wurde als Vertreter der »jungen« Autorengeneration geladen und hat es einer Potsdamer Kulturfunktionärin zu verdanken, daß er hier überhaupt über Zensur reden durfte. Denn der 1966 geborene Lyriker, der sich über die FDJ-Poetenbewegung in die Literaturszene katapultierte und mit vierzehn Jahren schon wie Bukowski nach der sechsten Flasche Weißwein dichtete, übt sich auch als Grafiker. Eine geplante Ausstellung in einem Potsdamer Kulturhaus wird kurz vor ihrer Eröffnung verboten, da sie einer zufällig hereinschauenden Funktionärin, die sich gerade mit jungen Grufties herumschlagen muß, zu morbid erschien. »Ich hatte dadurch mehr Ruhm, als ich mit der Ausstellung je gehabt hätte«, so Jansen, für den die Zensur »lächerlich und grotesk« und die »ganze DDR-Literatur ohnehin nie interessant«, sondern nur provinziell gewesen war. Doch bei aller Blasiertheit bringt er wenigstens das Problem Höpcke auf den Punkt. Der habe, so der junge Dichter, vor Jahren schon zu den im Schloß Schwerin versammelten FDJ-Poeten gesprochen und erklärt, »die Mauer sei notwendig«. Diese Behauptung aber hat Höpcke durch die aberwitzige Bemerkung zu untermauern versucht, daß er das auch unlängst in einer westdeutschen Großstadt so gesagt habe. »Wenn ein hoher Funktionär einem nicht einmal das System plausibel erklären kann, kann man auch den Staat nicht mehr ernst nehmen.« Und plausibel machen konnte Höpcke an diesem Abend nichts. Er kann es vielleicht wirklich nicht. Darin liegt wohl die Tragik des gescheiterten Experiments DDR, daß die Beteiligten nicht mehr wissen, wie, warum und wofür sie es durchführten.

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