: Sibirische Gesänge
■ Das Werktheater Wedding mit »Der Tunguska-Meteorit«
Das Stück beginnt mit einer Ansprache und ohrenbetäubendem Lärm, den die Zuschauer im Dunkeln erleben. Alle Märchen begännen im Dunkeln, weil man sich im Dunkeln das Schöne erst ausdenken könne. So ähnlich lautete die Erklärung, die in der Ansprache von Iris Disse, der Schauspielerin, gegeben wurde. Der Lärm jedoch macht Angst. Der Krach signalisiert eher das Ende einer Geschichte, die finale Explosion, die als Endangst in unseren Köpfen und in unseren Herzen ist und nicht so abwegig ist, wie man weiß. Nach der imaginierten Explosion gehen die Lichter an im Werktheater Wedding, und die Lichter sind blau. Auf drei Stühlen sitzen die Kehlkopfsängerin, die Performerin und die Schauspielerin. Sie beginnen die Geschichte des Tunguska-Ereignisses zu erzählen.
Tunguska-Ereignis wird der Absturz eines gigantischen Meteoriten im Zentrum Sibiriens im Jahr 1908 genannt. Die drei Frauen übernehmen während der Erzählung der Geschichte die verschiedensten Rollen. Iris Disse wird die Karikatur der Wissenschaftler, die je nach Standpunkt dem Tunguska-Ereignis die Bedeutung eines Meteoriteneinschlags geben oder auch nachweisen, daß es sich — 40 Jahre bevor die Kriegstechnologen das Atom hatten — um eine Atombombenexplosion gehandelt habe. Oder Iris Disse wird zur Übersetzerin des Märchens, das sich um den Tunguska-Meteoriten spinnt und das ihr von der sibirischen Mongolin Siankho Namchalak, Kehlkopfsängerin, in einer anderen Sprache erzählt wird. Es ist das Märchen vom Mädchen Aidys und der Schamanin. Die Koreanerin Grace Yoon, Performerin, wird zum Mädchen Aidys, das einen Meteoritenstein findet und ihn als Talisman behält. Kurze Zeit später aber hat sie seltsame Träume und begegnet Ivengi, dem Mann aus Stein. Die beiden verlieben sich ineinander. Siankho Namchalak aber, die sibirische Kehlkopfsängerin, stört als Schamanin die Liebe der beiden. »Wie die Mächtigen nun mal sind, sie wollen alles für sich haben«, sagt die Erzählerin.
In dem Stück Der Tunguska-Meteorit treffen drei Frauen aus drei völlig verschiedenen Kulturen aufeinander und spielen ein Stück, bei dem sie drei verschiedene Wahrnehmungen eines Ereignisses bieten. Eine Koreanerin, eine russische Mongolin und eine Deutsche, eine Performerin, eine Schauspielerin und eine Stimmvirtuosin spielen ein Stück aus drei Perspektiven. Da ist einmal der wissenschaftliche Ansatz, der alles in Erklärungsmuster preßt, gespielt von der Deutschen; da ist der realitätsbezogene Ansatz der russischen Mongolin, die mit dieser Geschichte aufgewachsen ist und sie den anderen erzählte, und da ist der Ansatz der Koreanerin, für die die Geschichte eine Fiktion ist.
Die Regisseurin, auch Mise-en- scène, Isabella Mamatis mußte versuchen, diese verschiedenen Ansätze teilweise stehenzulassen und teilweise zusammenzubringen. Stehengelassen hat sie sie in der Auswahl der Farben und in der Auswahl der Kostüme. Das die Bühne dominierende Blau und die gelegentlichen Veränderungen des Lichts stören die Wahrnehmung der anderen Farben. Zusammen kommen die im höchsten Maße unterschiedlichen kulturellen Ansätze, wenn sich zwei Frauen dem Rhythmus der dritten anpassen oder wenn erlaubt wird, daß ein Rhythmus oder eine Bewegung die der anderen dominiert. Am deutlichsten wird dies, wenn die sibirische Sängerin ihre hohen Töne anstimmt. Siankho Namchalak beherrscht eine ganz spezielle Technik, nämlich die, zwei verschiedene Töne gleichzeitig singen zu können. Es ist eine Gesangstechnik, die im südlichen Sibirien und den angrenzenden asiatischen Ländern beherrscht wird. Männer beanspruchen diese Technik für sich in Siankhos Heimat. Obertonsingen ist nur eine Technik, die Siankho Namchalak benutzt. Sie mischt sie mit klassischen Gesangstechniken und ist damit vor allem in Jazzkreisen bekannt geworden. Die Dynamik ihres Gesangs überwindet immer wieder die kulturellen und sprachlichen Grenzen, die im Stück sichtbar werden und mit denen Iris Disse nicht unabsichtlich umgeht.
Iris Disse hat auch in ihren früheren Theaterstücken mit kulturübergreifenden Konzepten gearbeitet. In ihrer letzten großen Produktion, die in einer Höhle in Mexiko spielte und von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang dauerte, wanderten die Zuschauer und die Spieler durch die fünf Kilometer lange Höhle an den Stationen eines Dramas vorbei.
Angesichts der Wahl zwischen finaler Explosion und dem Versuch, über kulturelle und politische Grenzen hinweg nach einer Zusammenarbeit zu suchen, haben sich die Koreanerin, die Mongolin und die Deutsche für das Verständigungsexperiment entschieden. Sie bieten an: eine Geschichte, mehrere Erklärungen, Bewegungen und ungewöhnlichen Gesang. Gerne nehme ich das Blau und die Veränderungen des Lichts in Kauf, um sie singen zu hören. Waltraud Schwab
Der Tunguska-Meteorit , noch bis zum 1. März, do. bis mo. jeweils 20 Uhr in der Fabrik Osloer Straße, Osloer Straße 12.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen