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Die Zeit billiger Versprechungen ist vorbei

■ Protestbewegung in der norddeutschen Küstenregion für aktiven Strukturwandel KOMMENTARE

Massenproteste in den Küstenstädten, demonstrierende Werftarbeiter im Werk und auf den Marktplätzen — diese Bilder aus Rostock erinnern an ähnliche Proteste vor Jahren in Bremen, Hamburg und Kiel, bei denen es auch um das Überleben großer Werftbetriebe, um den Niedergang einer für die regionale Wirtschaftsstruktur prägenden Branche ging. Möglich ist, daß die Kundgebungen gestern in Rostock und anderen ostdeutschen Küstenstädten erst der Auftakt für eine umfassende Protestbewegung in den ostdeutschen Betrieben sind. Nach der von blinden Hoffnungen auf schnellen Wohlstand getragenen Vereinigungseuphorie, nach der anschließenden tiefen Depression angesichts des realen Zusammenbruchs der ehemaligen DDR-Ökonomie signalisieren die Proteste von Rostock ein Ende der Lethargie. Schon dies allein ist gut, ist eine Voraussetzung für den Weg aus der allumfassenden Misere. Aber es ist noch nicht der Weg selbst.

Die Proteste richten sich gegen die passive Hinnahme des nach marktwirtschaftlichen Rentabilitätsgesichtspunkten unvermeidlichen Niedergangs der ostdeutschen Küstenindustrie. Schließlich werden mit der drohenden Stillegung großer Teile der Industriekapazitäten nicht nur Maschinen aus dem Verkehr gezogen, sondern auch Menschen aus ihren bisher gewohnten und gesicherten Lebensumständen herausgeworfen. Was der notwendige wirtschaftliche Umstrukturierungsprozeß in Ostdeutschland, wenn er weiterhin ohne jede industriepolitische und soziale Abfederung verläuft, an Unsicherheit und Verzweiflung, an sozialem und psychischem Massenelend produziert, taucht weder in den Bilanzen der Treuhandgesellschaft noch in den Verhandlungsunterlagen der Finanzminister auf. Umso notwendiger, daß dies nun auf den Straßen sichtbar wird und die Menschen endlich anfangen, ihre sozialen Interessen in der Öffentlichkeit zu artikulieren.

Dabei kann man von den unmittelbar betroffenen Arbeitern und Angestellten schwerlich Lösungsmodelle verlangen, die weder die Geschäftsführungen noch die Treuhand noch gar die Landes- und Bundesregierung vorweisen können. Schon bei den Werftbesetzungen in Bremen und Hamburg hat sich vor Jahren eine Ambivalenz gezeigt, die in industriellen Strukturkrisen kaum vermeidbar ist: Sie waren einerseits ein Kampf für die Erhaltung bestehender, aber unrentabler Arbeitsplätze, andererseits aber auch für einen in aller Regel wenig greifbaren, ungesicherten wirtschaftlichen Strukturwandel. Die Gewerkschaft IG Metall, die gestern die Arbeiter auf die Straßen geholt hat, fordert die umgehende Vorlage eines regionalen Strukturprogramms für Mecklenburg-Vorpommern. Sie versucht also, dem aussichtslosen Stukturkonservatismus die Forderung nach beschleunigter Veränderung entgegenzustellen.

Die Voraussetzungen dafür sind in der ostdeutschen Küstenregion noch weitaus schlechter als in der westdeutschen. Denn immerhin gab und gibt es in Bremen, Hamburg und Kiel keine derart ausgeprägte industrielle Monokultur wie in Rostock, mußte der Strukturwandel nicht unbedingt innerhalb der einen Branche Schiffbauindustrie vollzogen werden. In Ostdeutschland ist die Strukturkrise unvergleichlich tiefer, sind alternative, zukunftsträchtige Produktionszweige weitaus schwerer zu entwickeln — wegen des krassen Modernitätsrückstands der Industrie, wegen der darniederliegenden öffentlichen Finanzen, die keinen Spielraum für eine bitter nötige aktive Industriestrukturpolitik lassen. Dennoch gibt es zum Strukturwandel keine Alternative.

Notwendig wäre jetzt die Gründung eines Runden Tischs, an dem sich alle Beteiligten zusammenfinden, um jeden nur denkbaren Ansatz eines sozial und beschäftigungspolitisch verantwortlichen Strukturwandels zu diskutieren. Es liegen sowohl aus den westdeutschen Ländern als auch dem Ausland reichlich Erfahrungen über Chancen und Risiken eines solchen Prozesses vor. Sie müssen jetzt für die norddeutsche Küstenregion mobilisiert werden. Patentlösungen darüber, wie man den Strukturwandel gestalten kann, ohne eine ganze Region und deren Bevölkerung unter die Räder kommen zu lassen, hat niemand. Nur eines ist klar: Die Zeit der billigen Versprechungen ist endgültig vorbei. Martin Kempe

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