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Wirklichkeit als Tragödie

Ein Einblick in das Leben in der Sowjetunion  ■ Von Henrike Thomsen

Eine lange, eisverkrustete Straße, auf beiden Seiten gesäumt von quadratischen Holzhäusern und steil aufragenden Telegrafenmasten, scheint direkt ins Nichts zu führen. Der kräftige Rücken einer Frau in schwarzer Jacke, geblümtem Rock und Gummistiefeln füllt die Bildmitte. An jeder Hand hält sie zwei kleine Mädchen, ebenfalls in Anorak und Stiefeln, die sich schwungvoll der Kamera zuwenden. Unter hohen Kapuzen starren dort, wo die Augen sein sollten, zwei Paar blinde, runde Fenster hervor. Anstelle der Nasen baumelt jeweils ein langer Rüssel bis hinab zu den Ellenbogen. Kein Fleckchen Haut, keine Haarsträhne schaut unter den Gasmasken hervor, die diese Kinder tragen müssen, seit ihr Dorf Mushitschja Pawlowka durch austretendes Gas aus dem nahegelegenen Orneburger Gaskombinat verseucht wird. Die Ortschaft mußte inzwischen evakuiert werden. „Ich erwischte noch die letzten Bewohner“, lautet der Kommentar des Photographen Pawel Kassin.

Wirklichkeit und Tragödie heißt die Ausstellung über sowjetische Pressefotografie, die noch bis zum 3.März im Münchner Gasteig zu sehen ist. In Zusammenarbeit mit der Volkshochschule zeigt die Züricher Avantgarde Art Galerie die Bilder der sowjetischen Photographen Alexej Fjodorow, Pawel Kassin und Sergej Podlesnow aus den Jahren 1984 bis 1989. Ale drei arbeiten für die sowjetische Wochenzeitung 'Moscow News‘. Die Austellung war bereits im Fotoforum in Zürich und dem Musee de l‘Elysee in Lausanne zu sehen.

Diese Fotos sind mehr als eine schonungslose Dokumentation der sozialen und ökologischen Mißstände in der UdSSR. Sie sind eine Anklage sowohl gegen die politisch Verantwortlichen wie auch gegen die, die tatenlos zusehen. Alle wichtigen Themen der letzten Jahre, über die sich der Westen durch die Presse so wohl unterrichtet glaubte, finden sich wieder. Tschernobyl, der Rückzug aus Afghanistan, die Streiks in sibirischen Kohleminen, der Armeeeinsatz in Armenien und die Demonstrationen im Baltikum. Doch mit diesen Bildern eröffnet sich eine andere Perspektive — die der Betroffenen.

Weder Politiker noch Soldaten stehen im Mittelpunkt, sondern diejenigen, von denen die westlichen Presseberichte nicht sprechen: die Bewohner der betroffenen Gebiete. Besonders anhand von Kindern und alten Menschen wird das Ausmaß der Zerstörung dokumentiert, die Politik und Mißwirtschaft in den letzten Jahrzehnten angerichtet haben. Zwischen diesen Porträtaufnahmen hängen die Bilder von Massendemonstrationen in Armenien und im Baltikum sowie von heimkehrenden Soldaten. „Zurück aus Afghanistan“, kommentiert Podlesnow eines seiner Photos, auf dem ein junger Mann zwischen Panzerwracks und kaputten Kalaschnikows kauert. „Abgeschleppte Panzer, Gewehre, gebrochene Soldaten; sie werden Afghanistan zu Hause suchen — und dies ist das Schlimmste.“

Wie so oft in der russischen Kunst, zeigt sich auch bei den drei Photographen die Vorliebe für Symbole. In vielen Szenen sind Statuen und Bilder von Marx, Engels und Lenin als starre, unbarmherzige Beobachter enthalten. Umgeworfene Kreuze und verfallene Kirchen inmitten öder sibirischer Landstriche symbolisieren gleichzeitig die Entwurzelung und den Verlust jeglicher Perspektive der Bevölkerung. Die Vermischung der beiden Elemente Symbolik und Dokumentation machen in vielen Bildern die Unvereinbarkeit von Fortschritt und Tradition deutlich — wie zum Beispiel auf einem Foto Kassins, das den Scherenschnitt eines Reiters in einem rauchenden Fabrikpanorama zeigt.

„Heute, im Zeitalter der vielfältigen globalen Informationen durch die allpräsenten Massenmedien, darf man sagen: Kein Land wird so verkannt, sowohl von Freunden wie auch von Gegnern, über kein Land wird soviel gelogen, sowohl glorifizierend von fanatischen Chauvinisten wie verunglimpft von unversöhnlichen Feinden“, schreibt Lew Kopelew, der am letzten Tag in der Ausstellung sprechen wird, im Vorwort des Begleitkatalogs. Genau dagegen richtet sich die Arbeit Fjodorows, Kassins und Podlesnows. Sie trägt dazu bei, ein Stück Wirklichkeit aus der Sicht der sowjetischen Bevölkerung zu begreifen.

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