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Die Renaissance des Wir-Gefühls im Osten

■ Zu Besuch bei einem Handwerksbetrieb in Berlin-Mitte: Die Produktivkräfte keulen 14 Stunden am Tag

Berlin. In der Lehrwerkstatt lächelt Madonna mit Kußmund zwischen Schraubzwingen von der Wand. Zwei Räume weiter kleben Pin-up- girls an der Tür, umrahmen eine Urkunde in Anerkennung und Würdigung hervorragender Leistungen bei der Vorbereitung des X. Parteitags der SED.

Die Produktionsgenossenschaft Handwerk Innenausbau Berlin- Mitte ist ein Männerbetrieb. Die sechs Frauen der 50köpfigen Belegschaft — »Produktivkräfte und Unproduktive«, so Bereichsleiter Siegfried Nickel — arbeiten fast alle in der Verwaltung. »Wir bauen und reparieren Türen und Fenster, montieren Kunststoffenster und Wintergärten«, meint Nickel und geht vor einem Holzstapel auf und ab.

Früher hat die Schreinerei die Schreibtische in den Büros der DDR- Ministerien repariert und Fensterrahmen für die Häuser vom FDGB oder der Volkspolizei gebaut. Jetzt, wo die Großaufträge weg sind, bezieht sie Haustüren mit einer Plastikfolie, die wie Holz aussieht. In die Mitte kommt Glas, in das auch mal Trockenblumen eingelegt sind. Nickel: »Das Muster Niagarafälle ist der letzte Renner.«

Obwohl der Betrieb seinen Arbeitsbereich schnell verändert hat, hat er zu kämpfen: Die dreieinhalb Dutzend Handwerker müssen sich »ganz schön bemühen«, fahren zu Fortbildungslehrgängen und büffeln abends Marktwirtschaft. »Wir arbeiten zwölf bis vierzehn Stunden pro Tag. Wir sind belastet, meckern uns an«, weiß Nickel. In sein »wir« schließt der angehende Prokurist jedoch nicht die gesamte Belegschaft ein, sechs der 39 Handwerker arbeiten kurz, das sind immerhin 15 Prozent.

Gern würde er wohl weiter abwickeln: »Wir sind viel zu viele!« Die Akkordlöhne konnten zwar um fünfzig Prozent angehoben werden — im Durchschnitt arbeiten die Handwerker jetzt pro Stunde für zehn Mark fünfzig, statt wie vorher für sieben — doch habe die Geschäftsleitung angeordnet, daß sie vorerst nicht weiter steigen sollten. Die Belegschaft hält still: »Die Leute wollen ja ihren Arbeitsplatz behalten. Jeder bringt dann kleine Opfer«, meint Bereichsleiter Nickel. Dennoch nehmen Westfirmen dem Ostunternehmen die Aufträge weg.

»Im Februar 1990 haben wir angefangen, über neue Formen zu diskutieren«, sagt Karl Reckwardt. Der Chef der »Produktionsgenossenschaft des Handwerks« (PGH) strahlt Pioniergeist aus und residiert zwischen schweren Möbeln und Blümchengardine. Eine GmbH könne sich schneller dem Markt anpassen, meint er. Vorletzte Woche, im Gemeinschaftsraum mit dem Charme der 50er Jahre, verabschiedete sich der Betrieb von seiner genossenschaftlichen Struktur. »Soweit ich informiert bin, aus steuerlichen Gründen«, mutmaßt Lehrausbilder Norbert Eis.

1959 bildete sich die PGH Innenausbau aus mehreren kleinen Schreinereien. Die Regierung hatte ein neues Gesetz verabschiedet, daß Handwerksbetriebe mit mehr als drei Beschäftigten steuerlich benachteiligt. Die Genossenschaft mit unteilbarem Vermögen war der Ausweg.

Gut 30 Jahre später durfte die PGH diesen Fonds auszahlen: 50 Prozent hat sie nach Zugehörigkeitsdauer, die andere Hälfte nach dem Verdienst an die Mitarbeitenden verteilt. Durch diese Anteile haben sie als Gesellschafter nun Mitspracherecht in der GmbH. Ein gestaffeltes Mitspracherecht natürlich, denn die Stimmenanzahl richtet sich nach den Anteilen am Betrieb. Ein eingeschränktes außerdem, denn früher wurde sogar über den Kauf neuer Maschinen gemeinschaftlich abgestimmt.

Norbert Eis, vor wenigen Wochen in den Betriebsrat gewählt, interessiert sich nicht sehr für die Strukturumwandlung seiner Schreinerei: »Daß man sich mit dem Neuen beschäftigt, ist viel wichtiger«, sagt er und meint damit die Formen westlichen Wirtschaftens.

»Die Kompetenzen werden sich ändern. Die Kollegen müssen sich halt dran gewöhnen, daß sie jetzt nicht mehr überall was zu sagen haben«, meint Eis. Auf neue Arbeitsweisen und darauf, »daß hier der handwerkliche Bereich fast eingestellt wird«, müßten sie sich einstellen. »Es ist ja jedem klar, daß es nicht mehr geht, daß um vier Uhr der Hammer fällt. Aber wenn man sieht, daß die einen soviel arbeiten und die anderen haben nichts zu tun — dann ist das schon traurig.« Früher sei's einfacher gewesen: »Da wußte man am Jahresanfang, was man tun mußte. Man konnte langfristig planen«, erinnert sich der Lehrausbilder.

Eis meint, daß die DDR-Werkzeuge wesentlich besser seien als die aus den anderen Ostblockländern. »Die Arbeit macht erst jetzt richtig Spaß«, sagt er. »Man ist nicht mehr so eingesperrt, kann auch handeln. Und ein kleiner Händler steckt ja in jedem.« Auch Nickel redet vom Spaß an der Arbeit: »Wir haben es schwer, trotzdem finden wir es schön.« Schön findet er auch die neuen Einbauküchen, die seine Firma jetzt montiert.

Backöfen und Kühlschränke machen auch Chef Reckwardt Mut. Beim Blick in die Firmenzukunft setzt er auf das Individualitätsstreben potentieller Kundinnen: »Welche Frau will die gleiche Küche haben, wenn das ganze Haus die gleiche hat?«

In Vertrieb und Montage sieht er eine Chance für seine Schreinerei. Mit drei verschiedenen Westfirmen hat er bereits Franchise-Verträge abgeschlossen und stellt jetzt Küchen, Fenster und Türen in der Werkstatt aus. Gerne würde Reckwardt die Verkaufsfläche vergrößern. Das geht jedoch nur, wenn er das Firmengelände kaufen kann. Doch das ist derzeit noch Volks-, West- oder ausländisches Eigentum.

Seit Monaten verhandelt der PGH-Chef mit den zuständigen Magistrats- und Senatsbehörden, jetzt wartet er auf die Entscheidung, daß sein Unternehmen förderungswürdig sei.

Ist es das erst einmal, hofft er das Firmengrundstück zu alten Konditionen, zu DDR-Preisen, kaufen zu können. Dann will er weitere Partner suchen und neue Büro- und Verkaufsräume bauen. »Ich könnte mir vorstellen, daß hier mal 120 Leute arbeiten«, sinniert er. Ina Kerner

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