Ein Pilotprojekt für multikulturelles Leben

■ Der Bürgermeister auf Stadtteil-Besuch in Tenever: „Nachbesserung“ eines Stadtteils trägt erste Früchte

Ein Stadtteil, Slum, Ghetto, Klein-Manhatten, hoffnungsloser Fall: Der Vorurteile über Tenever gibt es viele. 7.000 Menschen wohnen dort in den vor 20 Jahren als Beispiel für moderene Wohnkultur erbauten Hochhäusern. Und nirgendwo in Bremen prallen die verschiedenen Kulturen so aufeinander. Fast jeder fünfte kommt aus einem anderen Land, viele Türken, vor zwei Jahren, als hier noch zweitausend Wohnungen leerstanden, wurden deutschstämmige Aussiedler aus Polen und besonders der Sowjetunion zu Hunderten dort einquartiert. Tenever: Ein Slum? Ein Ghetto?

Spätestens als vor zweieinhalb Jahren bei den Europa-Wahlen rund 10 Prozent der Wahlberechtigten Tenevers rechtsradikal gewählt hatten, kam Schwung in die Bemühungen, den Bremer Stadtteil mit dem schlechtesten Image und dem meisten sozialen Sprengstoff aufzumöbeln. Herausgekommen ist das „Nachbesserungsprogramm Tenever“, ein Bündel von mehr als 70 Einzelmaßnahmen, die dem Stadtteil ein freundlicheres Gesicht geben und den BewohnerInnen mehr Wohnqualität bringen sollen.

Erste Verbesserungen sind bereits zu besichtigen und die Bürgerschaftswahlen sind nicht allzu fern. Anlaß und Gelegenheit für Bürgermeister Wedemeier gestern mit öffentlich Bediensteten und Journalisten dem Stadtteil einen Besuch abzustatten. Verbesserung Nummer 1: Seit einem halben Jahr fährt jeder zweite Bus der Linie 25 direkt aus der Stadt bis nach Tenever. Im Sommer soll dann jeder Bus den weiten Weg in die Vorstadt nehmen. Dann wird auch der nahegelegene Weserpark direkt von der Linie 25 angefahren.

In der Schule Andernacher Straße wartet braver Protest auf den Bürgermeister. „10 erste Klassen, nur fünf Räume“ steht auf den Plakaten. In der Tat platzt die Schule seit dem Zuzug von kinderreichen Neubürgern aus allen Nähten. Von den mehr als 700 SchülerInnen kommen 368 aus fernen Landen mit den entsprechenden Sprachschwierigkeiten. Eine solche Situation in einer innerstädtischen Schule hätte längst zu lautstarkem Dauerprotest geführt. In Tenever bleibt es recht ruhig, vielleicht auch, weil der Senat für den Beginn des Schuljahres 1992 einen Neubau versprochen hat. Doch der Zeitplan ist eng und bislang blockieren sich Bau- und Schulverwaltung noch bei der Suche nach dem geeigneten Modell. Das soll in der kommenden Senatssitzung beendet sein. „Dienstag ist das soweit“, verspricht Wedemeier und macht sich Notizen.

Seit langem versprochen und bewilligt ist auch der Neubau eines dringendst benötigten Horthauses. Doch die ursprünglich kalkulierten 12 Millionen Mark reichten hinten und vorne nicht. Also mußte nachberaten, nachbewiesen und nachgebessert werden. Im Herbst soll nun definitv Einweihung gefeiert werden.

Szenenwechsel, Neuwieder Straße 23. 27 Stockwerke, rund 700 BewohnerInnen aus mindestens sechs Nationen. Nirgendwo in Bremen leben auf so engem Raum so viele Menschen beieinander. In die Tiefgarage trauen sich viele MieterInnen nicht, aus Angst überfallen zu werden. Die Klage über Vandalismus und nach Urin stinkenden Treppenhäuser ist allgegenwärtig. Im Partyraum haben Bewohner zum Empfang des Bürgermeisters Kaffee, Kekse und Kunstblumen aufgeboten. Die gute Seele des Hauses, Olga Laser, die sich aus eigenem Antrieb um die Behördenpost von Ausländern, im Hausflur spielende Kinder und gemeinsame Ausflüge der Hausgemeinschaft kümmert, begrüßt den Bürgermeister „zum ersten Mal in unserem Partyraum“. Und der so herzlich begrüßte lächelt beim Handschlag verlegen wie ein Schuljunge. „Heller, freundlicher, sicherer“, soll es werden, verspricht der Mann von der GEWOBA; und die Bewohner sind froh, daß nach all den Jahren jemand auf die Idee gekommen ist, die jeweiligen Etagen abschließbar zu machen.

Weiter in die Kulturetage, die seit mehr als drei Jahren ABM-finanziert kleine Impulse in die kulturelle Diaspora bringt. Ein Veranstaltungssaal für Konzert oder Theater? Fehlanzeige. Kommerzielles Kino? Fehlanzeige. Dafür aber wenigstens Stadtteilfeste und Flohmärkte, kleine Ausstellungen in den beengten Räumlichkeiten und neuerdings auch Kunst am Bau. Die hier arbeiten, haben ein ganz anderes Bild von Tenever gewonnen, als es das Ghetto- Klischee nahelegt: „Eine hohe Wohnzufriedenheit“ — „ein Stück Heimat“ — „multikulturelle Gesellschaft als reales Leben“. Und sie haben die Erkenntnis, daß kulturelle, soziale und bauliche Nachbesserungen wichtig ist, daß es aber auch gilt, das Image des Stadtteils nachzubessern. Denn die Ausgrenzung Tenevers beginnt in den Köpfen derjenigen, die den Stadtteil nicht kennen. Eine bringt es in der Kulturetage auf den Punkt: „Wenn gesagt wird: 'Iih, was ist das für ein Haus?‘, dann sagt man den Menschen hier auch: 'Mit Euch will ich nichts zu tun haben‘.“ Holger Bruns-Kösters