Ostdeutsche auf Abhautrip „Go west“ als Ausweg

■ Frustriert und hoffnungslos, keine Perspektive — Hauptziele: Australien, Neuseeland, Kanada und die USA/ Potsdamer Beratungsstelle überlaufen

Potsdam. Vielen Menschen in der ehemaligen DDR erscheint die Auswanderung der einzige Weg aus der derzeitigen Hoffnungslosigkeit zu sein. Der Landesverband des Deutschen Roten Kreuzes in Brandenburg hat als erster in Ostdeutschland eine Beratungsstelle für deutsche Auswanderungswillige eingerichtet. Die Adresse in der Potsdamer Friedrich- Ebert-Straße hat sich rasch herumgesprochen. „Die täglichen fünf Stunden Beratungszeit reichen eigentlich nicht aus“, seufzt Beraterin Eugenia Gilge. Bis zu fünfzehn Gespräche führt sie täglich. Die Schauspielerin ist selbst vor Jahren aus Rumänien eingewandert und kennt die Probleme, Wünsche und Sehnsüchte der Ratsuchenden: „Viele kommen mit Illusionen.“ Gerade die Einwanderungsbehörden der am häufigsten genannten Zielländer, Australien, Neuseeland, Kanada und USA, sind auch gleich die strengsten. So hat zum Beispiel Kanada seine Einwanderungsbestimmungen bis einschließlich Juli 1991 verschärft. Es werden überhaupt nur Anträge angenommen, die von Verwandten oder Arbeitgebern in Kanada gestellt werden. Normalerweise werden an die Auswanderungswilligen erst einmal Fragebögen verteilt, die von den Konsulaten beziehungsweise Botschaften nach einem Punktesystem bewertet werden. Erreicht ein Bewerber eine geforderte Punktzahl, so erhält er die endgültigen Antragsunterlagen. Sind alle Papiere komplett, zu denen neben Zeugnissen und Personalpapieren auch das polizeiliche Führungszeugnis und ein medizinisches Attest gehören, beginnt die oftmals lange Wartezeit. Hinter dem großen Interesse an ihrer kleinen Beratungsstelle vermutet Frau Gilde kurz: die „Perspektivlosigkeit in den neuen deutschen Bundesländern“. Viele ihrer „Klienten“, wie sie sie nennt, sind unter 30 Jahre alt und Singles. „Die meisten sind total frustriert. Keine Arbeit, kein Geld.“ Eine Mischung aus Verzweiflung, Hoffnung und einem Hauch von Abenteuerlust ist Grund für die Aufbruchstimmung. Aber nicht nur Alleinstehende, sondern auch Ehepaare mit Kindern bereiten ihren Auszug aus Deutschland vor. „Nichts wie weg“, sagt die 35jährige Gerlinde Knetsch, Geografin und Mutter zweier Kinder aus Potsdam. „Die ganzen Werte der Ex-DDR gehen verloren.“ Die Menschen würden immer materialistischer, „mehr scheinen als sein“ sei plötzlich angesagt. „Auch meinem Mann, der eher bodenständig ist, reicht's.“ Familie Knetsch hat sich sehr gut vorbereitet und wird wohl auch Chancen haben, nach Australien auswandern zu können. Ein Onkel lebt seit 1959 als Farmer im Norden Adelaides. Wohnung und Arbeit werde er seinen Verwandten besorgen, „das hat er schon brieflich zugesichert“, freut sich Frau Knetsch. „Bei mir sieht's wohl schwieriger aus“, befürchtet Amina Wollny aus dem Osten Berlins. Deutschland hat für sie „völlig verloren“, hier sieht sie keine Perspektiven. Die 25jährige Bibliothekarin möchte zu ihrem Freund nach New York. Eine Heirat mit dem Amerikaner würde alles vereinfachen, so weit wollen die beiden jungen Leute aber noch nicht gehen. So hofft die Ostberlinerin, auf direktem Weg die Einwanderungsgenehmigung zu bekommen. Mit sehr guten Englischkenntnissen und ihrer Ausbildung rechnet sie sich Chancen aus. „Wenn's nicht klappt, versuche ich vielleicht, mich über Kanada reinzuschleichen.“ Hoffnungsfroh sitzen auch fünf Freunde aus Eisleben im Warteraum der Beratungsstelle. Die drei Frauen und zwei Männer zwischen 19 und 30 Jahren haben sich einfach ins Auto gesetzt und sind nach Potsdam gefahren, um nicht die kleinste Möglichkeit auf eine Zukunftsperspektive zu verpassen. Zwei von ihnen sind schon arbeitslos, die anderen von Arbeitslosigkeit bedroht. „Wir können zwar nicht gut Englisch, aber das können wir ja lernen.“ In Eisleben und Umgebung gebe es in den nächsten Jahren überhaupt keine Aussichten auf Anstellung, beschreibt Sigrid Günther ihre traurige Situation. „Ich muß doch was machen, seit Juni bin ich schon arbeitslos und habe zwei Kinder zu Hause.“ Katrin Bluhm