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„Ich schaffe die Demokratie“

Die Rhetorik Lech Walesas. Eine Analyse.  ■ Von Marek Czyzewski und Sergiusz Kowalski

Lech Walesa, der Vorsitzende der Unabhängigen Gewerkschaft Solidarität, Friedensnobelpreisträger und Präsident der Republik Polen, spricht polnisch. Genauer: Neben den üblichen Konstruktionen der Umgangssprache benutzt er Sätze und Sprachfiguren, die nur ihm zu eigen sind. Seine Sprache ist spezifisch, wenn auch nicht einzigartig.

Wir untersuchen Walesas Rhetorik, weil alle (und auch er selbst) ihn als unverzichtbares Element der politischen Realität betrachten, als Spiritus movens aller Veränderung, als den Gründervater der polnischen Demokratie, eine nach allen Kriterien außergewöhnliche Persönlichkeit: „Ich bin der größte Demokrat in diesem Lande. Von allen Menschen in Polen habe ich am häufigsten auf den Sieg des August 1980 geschworen. [...] Dieser Schwur gibt mir das moralische Recht, Ereignisse zu provozieren und zu inszenieren, um Probleme zu lösen, die ich zu lösen geschworen habe. Eben das tue ich. [...] Um diesem Schwur treu zu bleiben, kann ich befugt oder gezwungen sein, unterschiedliche Positionen einzunehmen.“

Lech Walesa ist oft als charismatischer Führer charakterisiert worden. Rufen wir uns deshalb Max Webers klassische Überlegungen zu diesem Thema ins Gedächtnis: „Reinste Typen (charismatischer Herrschaft) sind die Herrschaft des Propheten, des Kriegshelden, des großen Demagogen. Der Typus des Befehlenden ist der Führer. Der Typus des Gehorchenden ist der ,Jünger‘. Ganz ausschließlich dem Führer rein persönlich um seiner persönlichen, unwerktäglichen Qualitäten willen wird gehorcht. [...] Aktuelle Offenbarung oder aktuelle Schöpfung, Tat und Beispiel, Entscheidung von Fall zu Fall [...] charakterisiert die Herrschaft. An Tradition ist sie nicht gebunden: ,Es steht geschrieben, ich aber sage euch‘, gilt für den Propheten...“ (2) Der charismatische Führer glaubt an seinen Stern — und dieser Glaube wirkt ansteckend auf andere. Mit einigem Pessimismus schrieb Florian Znaniecki: „Die Heldenverehrung ist den meisten Gesellschaften zu eigen. [...] In modernen Zeiten erleben wir ein beispielloses Anwachsen der Verehrung noch lebender Nationalhelden, manchmal spontan, aber meistens durch Gruppen von Gefolgsleuten organisiert und mit allen Mitteln der Propaganda und öffentlicher Zeremonien verbreitet. Diese Helden vereinigen alle heroischen Merkmale: Wie politische Helden sind sie Gesetzgeber; als Kriegshelden sind sie Verteidiger und Retter; sie sind heilig in ihrer Makellosigkeit, und sie sind heroische Förderer des Fortschritts auf dem Gebiet der Nationalkultur.“ (3) Somit sind weder Walesa noch die Erwartungen an ihn irgendwie neu oder ungewöhnlich; genauer: Begriffe wie charismatische, autoritäre oder narzißtische Persönlichkeit — um auf so verschiedene Denker wie Weber, Adorno und Freud zurückzugreifen — sind durchaus bekannt, weil ihre empirischen Verkörperungen häufig genug in der Geschichte menschlicher Gesellschaften aufgetreten sind.

Die metapolitische Stimme Lech Walesas

Wenn wir die Äußerungen Lech Walesas analysieren, könnten wir natürlich auch auf die Frage eingehen, wie Walesa spricht, welche Sprachfiguren er benutzt, wie er seine Reden aufbaut. Der Spur der strukturellen Analyse folgend, fragen wir jedoch lieber, welche Art Stimmen durch Lech Walesa sprechen und wie sie zueinander in Beziehung stehen. Somit interessiert uns nicht die psychologische Charakterisierung des sprechenden Subjekts oder seine Motive und Bestrebungen, sondern die strukturellen Merkmale des politischen Diskurses, der seine physische Verkörperung in der tatsächlichen Rede Lech Walesas findet.

Zunächst ist festzuhalten, daß in Walesas Äußerungen zwei unterschiedliche Stimmen koexistieren: eine metapolitische und eine politische. Die metapolitische Stimme informiert uns, daß Lech Walesa über allen politischen Differenzen steht, daß er der Wächter der Tradition von Solidarität ist und der Hüter aller demokratischen Kräfte. „Ich vertrete kein Programm, ich spiele nur die Rolle des Hüters der Demokratisierung.“ (GW 2.3.90) „Ich werde alles tun, um Polen zu helfen. Polen — und nicht einer Gruppe, und sei es auch meine eigene.“ (RzP 3.5.89) „Ich kann beweisen, daß alles, was ich tue, sich aus der Arithmetik der Demokratie ergibt.“ (TS 17.8.90) Der politischen Stimme dagegen ist alle Unparteilichkeit fremd, wenn es darum geht, aktuelle Lösungen für aktuelle politische Kontroversen zu fördern. [Vgl. Walesa, der die Landwirtschaftspolitik der Regierung Mazowiecki kritisiert, oder Walesa, der Najder gegen Wujec unterstützt]. (4) Man beachte, daß die Botschaft der politischen Stimme durch die Existenz der metapolitischen Stimme in der Rede des gleichen Mannes an zusätzlicher Geltung gewinnt; tatsächlich liegt der Eindruck nahe, daß Walesa, wenn er sich für eine Option entscheidet, sich in Wirklichkeit nicht festlegt, daß er unvoreingenommen ist und seine neutrale Position des „Gründungsvaters“ der polnischen Demokratie wahrt.

Ein rhetorisches Merkmal: die Objektivierung seiner selbst

Ein rhetorisches Merkmal Lech Walesas ist seine Objektivierung seiner selbst, wie die folgenden Stilbeispiele zeigen: „Dauernd höre ich im Fernsehen, es gäbe einen Konflikt zwischen Lech Walesa und dem Premierminister.“ (RzP 15.6.90) „Ihr müßt das Polen schaffen, das ihr wollt, und wenn ihr etwas verderbt, könnt ihr nicht sagen, daß Walesa den Schaden angerichtet hat — es wird eure Schuld sein.“ (DzZ 13.5.90) „Jeder, der mit Walesa nicht zusammenpaßt oder mit Walesa nicht zusammenarbeiten will, kann neue Organisationen schaffen, und wir werden ihn nicht daran hindern, sondern ihm dabei helfen...“ (RzP 20.9.89) „Ich werde alles zu Ende führen, das mit oder ohne Walesa begann.“ (GW 27.4.90) Objektivierung ist eine Sprachfigur, mit deren Hilfe Lech Walesa eine Botschaft übermitteln kann, die einer symbolisch aufgeladenen Quelle „Lech Walesa“ entspringt. Diese Quelle — „Lech Walesa“ — ist unhinterfragbar; wenn Walesa spricht, zitiert er „Lech Walesa“, eine Autorität mit solchen Tugenden wie Unfehlbarkeit, Eindeutigkeit, Gewißheit. Implizit findet sich der Beweis für unsere Interpretation dieses rhetorischen Merkmals Lech Walesas in der Tatsache, daß Walesa, wenn er einen Fehler einräumt, nur in seinem eigenen Namen spricht: „Ich nahm mir einfach die Macht und erreichte so viel, als mir meine Fähigkeiten und Kräfte erlaubten.“ (WW 23.-25.3.90) Aber auch das kollektive Subjekt wird häufig für Fehler zur Rechenschaft gezogen: „Ich bin nicht zufrieden mit euch. [...] In Polen stimmt etwas nicht. [...] Ich fühle mich für die Unordnung in Polen verantwortlich. Mich für eine schwache Regierung verantwortlich zu machen, ist ein Mißverständnis. Ich habe das alles kontrolliert. Wir haben die Freiheit wiedergewonnen, aber wir müssen auch etwas mit dieser Freiheit anfangen.“ (TSM 30.3.90) Fehler machen daher Lech Walesa oder Lech Walesa und andere, aber niemals die Quelle „Lech Walesa“.

Daher erscheint die gleiche Person, Lech Walesa, einmal als privates, ein anderes Mal als objektives Subjekt. „Lech Walesa sagt euch...“ Die koexistierenden, unterschiedlichen Sprachfiguren („Ich“ gegenüber „Lech Walesa“), die die gleiche psychologische Einheit bezeichnen, können jedoch in der öffentlichen Rezeption auf einzigartige Weise vermischt auftreten. Was der Hörer aufnimmt, ist ein Wortstrom, in dem die beiden getrennten Komponenten sich zu einem unzertrennlichen Ganzen vermischen; die Entschiedenheit der objektiven Botschaft wird neutralisiert durch die Selbstkritik des privaten Subjekts, und umgekehrt werden die privat übermittelten menschlichen Mängel (wie Fehlbarkeit, Ängste und Zweifel) durch die Erhöhung in den Bereich der Objektivität sublimiert. Es ist daher nicht leicht, Walesa den Fehler willkürlichen Sprechens vorzuwerfen, weil die Willkür auf einer anderen Ebene der Botschaft aufgehoben wird.

„Es kann kein Scheitern geben, weil ich mit dem Volk bin.“

Die Objektivierung der Sprache hat eine weitere wichtige Eigenschaft: die ideologische Dimension. Der Hörer kann mit vollem Recht annehmen, wenn Walesa spricht, spreche er nicht im eigenen Namen, sondern im Namen höherer Ideen; während wir Walesa zuhören, der nur das sagt, was er sagt, werden wir informiert, bei uns sei „Walesa“, lies: die „Solidarität“ mit ihrem historischen Erbe, ihren Idealen und ihrem Ethos. Wie bereits aufgezeigt, könnte eine andere Sprachform den tatsächlichen und persönlichen Charakter durch Ausdrücke wie „Ich denke, daß“, „meiner Meinung nach“ betonen; wir würden daran erinnert, daß man auch anders denken kann, daß Meinungen sich unterscheiden können. Es gibt jedoch keine Möglichkeit, uns von einer ideologischen Botschaft zu unterscheiden. Sie kann nur akzeptiert oder abgelehnt werden, und im Falle der „Solidarität“ ist dies keine rationale, sondern eine moralische Entscheidung. Die Objektivierung stärkt die Position des Individuums, indem sie ihm eine ideologische Sanktion verleiht, die alle Individualität transzendiert. Dennoch wirkt hier auch der Mechanismus der Rückkopplung; wenn sich in einem bestimmten Falle erweist, daß eine reale Person mit einer Idee gleichgesetzt werden kann, dann konzentriert sich die Idee in den wahrgenommenen Handlungen (und Worten) dieser Person. Individuelle Ausdrucksformen — daß Walesa aussieht, wie er aussieht, daß er angeln geht, daß er acht Kinder hat, daß er einzigartig ist, sogar, daß er sich über die anerkannten Regeln zum Beispiel der Demokratie hinwegsetzt. All dies trägt dazu bei, dem sterilen Ideal der Solidarität mehr Leben und Farbe zu verleihen. An diesem Punkt müssen wir auf einen wichtigen Unterschied hinweisen: Ein „Funktionär“ der Solidarität, ein „Bürokrat“ in Webers Typologie, muß, um akzeptiert zu werden, verschiedenen objektiven Erfordernissen gerecht werden, zum Beispiel muß er sich an die Resolutionen der Gewerkschaft halten; ein charismatischer Gewerkschaftsführer genießt beträchtliche Freiheiten, er kann es sich auch leisten, so unorthodox aufzutreten wie Walesa beim ersten nationalen Kongreß der Solidarität 1981, als er verkündete, der Vorsitzende werde sich nicht an das soeben beschlossene Programm halten, sondern sein eigenes verwirklichen. Was den Führer betrifft, so ist selbstverständlich allgemein bekannt, daß seine Leistungen groß sind und „niemand die Gesellschaft besser vertreten würde“. (AS 40; 204)

Der Funktionär muß für seine Handlungen Rechenschaft ablegen; wenn er inkompetent oder unfähig ist, sollte er ausgewechselt werden. Die Handlungen eines Führers sind einer solchen Beurteilung nicht unterworfen. Seine individuelle Verantwortlichkeit für die aktuelle Arbeit wird verschleiert durch die Autorität des objektivierten Subjekts, die außerhalb des Kontexts der faßbaren Ereignisse angesiedelt ist. Daher kann nur der Führer in seiner Rhetorik das Werkzeug der Objektivierung handhaben.

Die nächste rhetorische Besonderheit Lech Walesas zeigt sich explizit im folgenden Beispiel: „Sie erzählen mir etwas über das deutsche, das französische, das amerikanische und andere Präsidentschaftsmodelle. Ich habe meine eigene Philosophie — sie kommt aus euch.“ (GW 29.9.90) Lech Walesa weicht jedoch einer präzisen Formulierung dieser Philosophie aus. Unter diesen Bedingungen hat der Hörer das Recht zu erwarten, den Fortschritt verbürge nicht irgendein aktuelles Handlungsprogramm, sondern nur der große Mann und sein Verhältnis zur Gesellschaft: „Hah! Es kann kein Scheitern geben, weil ich mit dem Volk bin!“ (TSM 2.9.90) Da wird dem Hörer ein magisches Versprechen zuteil: Walesas Teilnahme am Prozeß der Entscheidungsfindung und ihrer folgenden Verwirklichung wird automatisch die erwünschten Ergebnisse bringen; daraus folgt, daß sich seine Abwesenheit nur negativ auswirken könnte. Andere magische Formeln in der Sprache Lech Walesas sind „Beschleunigung“ und „die Dinge in Ordnung bringen“. Sie werden nicht in Handlungen umgesetzt, sondern wirken nach einem Prinzip des Deus ex machina. Die vom Führer prophezeiten Dinge sind nur deshalb gut, weil er sie prophezeit und nicht irgendein anderer. „Ich habe mein Programm nicht vorgelegt, aber wenn ich es tue, werde ich gewinnen, denn mein Programm wird wirksam sein.“ (TS 30.3.90) „Ich habe meine Rolle zu 500 Prozent erfüllt. Der Rest liegt bei der Regierung, beim Präsidenten...“ (RzP 4.12.89) Das Motiv des Vertrauens ist an diesem Punkt sehr bedeutsam. Darüber hinaus verlangt der Führer nicht nur Glauben von anderen — auch sein Glaube an sich selbst kennt keine Grenzen, er ist die höchste Instanz, die entscheidende Stütze: „Wenn das so weitergehen soll und ihr kein Programm vorlegt — dann werde ich euch mein eigenes Programm geben, sehr breit, darin wird alles enthalten sein.“ (RzP 13.3.90) Walesa hat nicht die Absicht, seine Reserven zu schnell offenzulegen, weil er sonst seine tatsächlichen Fähigkeiten in Begriffen ziel- und vernunftorientierten Handelns demonstrieren müßte. Im Gegenteil: Das Motiv der Drohung, angemessen betont — wenn die Dinge schlecht laufen, werde ich euch zeigen, wozu ich fähig bin —, hebt die Sicherheit, deren wichtigster Garant Lech Walesa ist, in den Mittelpunkt.

Walesa spricht: „Ich schaffe die Demokratie.“

Ein auffallendes Merkmal der Sprache Lech Walesas ist sein Aktivismus. Wenn er sich an seine Jugend erinnert, betont Walesa, daß er immer ein Mann der Tat gewesen sei: „Ich war schon immer so, auch als armer Landjunge, der Pilot werden wollte. Ich war immer der Rädelsführer, wie ein Widder, der seine Herde anführt, wie ein Bulle, der seine Herde beschützt.“ (CdS 7.3.81) Walesa schreibt sich das gleiche Merkmal auch für die Gegenwart zu: „Ich schaffe die Demokratie nicht in Parolen, sondern in der Praxis...“ (TSM 2.9.90) Walesa ist immer in Bewegung und trifft die notwendigen Entscheidungen schnell; es ist mühelos zu beobachten, daß er selbst die Quelle, die letzte Ursache dieser ständigen Bewegung ist, daß er den Mechanismus antreibt: Er handelt und führt andere, die handeln. Gleichzeitig ist der Zweck dieser ganzen Aktivität einigermaßen vage: „Polens Wohl“. Die Mittel, um dieses Ziel zu erreichen, werden unter dem Diktat des Augenblicks gewählt, je nach den Erfordernissen der aktuellen Kampfsituation („in dieser Phase“) — die Entscheidung liegt bei Lech Walesa. Wenn das Ziel sehr allgemein ist und die Mittel instrumentell gewählt werden, ad hoc, gewinnt die Aktivität, die Tat selbst den Status eines höheren Werts. Die Tat hat einen besonderen Anstrich, sie ist ein Kampf: „Ich bin für ständige politische Unruhe, für ständige Lösungen politischer Konflikte. Parlamentarische Demokratie ist für mich ein friedlicher Kampf aller gegen alle.“ (GW 11.5.90) Diese Art der Verabsolutierung der Tat als Kampf ruft zum Beispiel die Muster von D'Annunzios Lyrik ins Gedächtnis.

„Wir brauchen einen Widder, wir brauchen einen Bullen, sonst verläuft sich die Herde.“

Die Verabsolutierung der Tat wird auf zweifache Weise in die Zukunft projiziert: Erstens wird Lech Walesa als Präsident sich niemals auf seine offizielle Tätigkeit im Belweder beschränken, er wird ständig in Bewegung sein, er wird immer alle in Erstaunen versetzen durch unerwartete Auftritte, um überall persönlich einzugreifen, wo es sich als nötig erweist, er wird keine Strukturen versteinern lassen: „Über den Präsidenten denke ich, daß er sogar mit einer Axt herumlaufen kann, wenn Polen gestohlen wird.“ (GW 11.5.90) Die zweite Dimension dieser futuristischen Projektion besteht darin, die Öffentlichkeit zur Aktivität aufzurufen; die Mobilisierung muß allumfassend sein. Niemand sollte beiseite stehen. Die Aktivität der Massen ist für Lech Walesa unverzichtbares Element einer normativen Vision der sozialen Ordnung. Daher ergreift Walesa Partei in dem alten Streit, ob der Mensch grundsätzlich ein politisches Tier sei, das von der allgemeinen Teilnahme nur durch schlechte soziale Institutionen abgehalten werde, oder ob die Politik die Domäne professioneller Eliten sein solle. Außerdem würde Walesa, während er sich vorbehaltlos für das erste Konzept entscheidet, seine Vision über Nacht ins Leben rufen, mittels einer „Abkürzung“, wenn nötig unter Zwang: „Ich weiß, daß ich gewinnen werde. Das Problem liegt woanders. Ich will nicht den Sieg um des Sieges willen. Ich will starke Unterstützung. Nur dann werde ich meine Aufgaben vollbringen können, werde ich appellieren, ermutigen, fordern und nein sagen können. [...] Und das ist noch nicht alles! Wenn ich kandidieren soll, muß die Wahlbeteiligung obligatorisch sein. Jeder Pole muß den Präsidenten wählen, jeder muß Partei ergreifen.“ (ZW 25-26.8.90)

Aus der Verschmelzung des individuellen und des kollektiven Aspekts dieses Aktivismus geht noch eine weitere Botschaft hervor: Ich bin einer von euch, zusammen werden wir die Welt aus den Angeln heben. Ein solches Modell der sozialen Veränderung ist für Lech Walesa zusätzlich gerechtfertigt durch die folgende allgemeine Formel des gesellschaftlichen Lebens: „Wir brauchen einen Widder, wir brauchen einen Bullen, sonst verläuft sich die Herde der Schafe oder Kühe überall hin, wo es gerade etwas Gras gibt. Und niemand folgt dem richtigen Weg. In einer Herde ohne Führer gibt es keinen Sinn, keine Zukunft. Trotzdem weiß ich nicht, ob ich wirklich ein Führer bin. Ich weiß nur, daß ich das Gefühl für die Dinge in den Knochen habe — wenn die Herde schweigt, weiß ich, was ich zu sagen habe. Und dann finde ich auch die richtigen Worte...“ (CdS 7.3.81) Beiläufig ist festzuhalten, daß die zitierte allgemeine Formel des gesellschaftlichen Lebens eine Transposition seiner zuvor berichteten biographischen Erfahrungen ist. Das gleiche Konstrukt — die Übertragung individueller biographischer Erfahrung auf das weite Feld des gesellschaftlichen Lebens — ist bei Lech Walesa in verschiedenen anderen Zusammenhängen anzutreffen. Somit bedient sich Lech Walesa als ein die gesellschaftlichen Gesetze reflektierendes Objekt einer der Grundregeln des gesunden Menschenverstands: das Persönliche und das Besondere auf das Feld der universellen Gesetzmäßigkeiten zu projizieren.

Walesa, erfahren wir, findet intuitiv das Richtige: Er „hat es in den Knochen“

Die zitierte Äußerung bringt ein weiteres Merkmal von Lech Walesas Diskursstil zutage. Die Quelle (Subjekt) der Botschaft verlangt Vertrauen; diese Forderung wird gerechtfertigt durch vergangene Beispiele richtiger Entscheidungen wie auch durch die richtige Politik Lech Walesas. Darüber hinaus ist es in jedem einzelnen Fall nicht erforderlich, durch Vernunftgründe oder rationale Analyse zu demonstrieren, daß Walesas Vorschlag richtig ist; Walesa, erfahren wir, findet intuitiv das Richtige: Er „hat es in den Knochen“.

Das Bild des sozialen Universums der Politik, der interpersonellen Beziehungen, das sich aus verschiedenen Reden Walesas ergibt, ist im Grunde einfach, aller Geheimnisse bar, lesbar; die Welt kann mittels offensichtlicher Wahrheiten verstanden werden. Wenn es sich jedoch anders erweist — daß die Welt komplex und zweideutig ist —, dann nur, weil irgend jemand manipuliert hat, böse Absichten zeigt, aufgrund von Fehlern und Nachlässigkeiten. Die politische Welt enthält „Angelegenheiten“, „Dinge“ und „Probleme“, die „auf den Stand gebracht“ werden müssen, „aufgeräumt“, „in Ordnung gebracht“ und „gelöst“. Diese Kategorien sind das Grundrepertoire von Lech Walesa. Um dieses Phänomen zu illustrieren, zitieren wir die bekannte Äußerung über die 'Gazeta Wyborcza‘ und ihren Herausgeber: „Ich habe niemanden entlassen, aber ich will die Dinge in Ordnung bringen. Adam Michnik wurde ernannt, als wir uns auf die Wahlen vorbereiteten. Später gründete Michnik eine Firma, und er ist praktisch unabhängig, also muß das in Ordnung gebracht werden. Ich stellte Michnik vor die Aufgabe, dies zu lösen, aber die Presse machte eine Sensation daraus. Wir müssen das Problem lösen, ob eine private Firma das Recht auf ,Solidarität‘ im Namen hat. Und zweitens muß und sollte sie die Frage der Ernennung klären, weil ich dazu jetzt keine Zeit habe.“ (GW 7.6.90)

„Die Dinge in Ordnung bringen“

Die Dinge sollten beim richtigen Namen genannt werden, alle Akteure auf der politischen Szene sollten klarmachen, was und wer sie sind: die Linken Linke, die Juden Juden etc.; wenn das erfolgt, werden das gesellschaftliche Leben und der politische Prozeß ihre grundlegende Einfachheit erweisen. Die scheinbar komplizierten „Angelegenheiten“ oder „Dinge“ werden sich als ebenso einfach erweisen wie das Offensichtliche. Von daher stammt die Möglichkeit, die Muster der Alltagsroutine, die jeder versteht, auf den Bereich der Politik, der Wirtschaft, der Systemmodelle zu übertragen, z.B.: „[...] Die Solidarität von heute ist nur die Grundlage für die zukünftige Sache. Es ist wie [...] mit Kartoffeln. Wenn wir eine schöne finden, essen wir sie nicht, sondern pflanzen sie, um in der Zukunft Kartoffeln wie diese zu haben und nicht schlechtere.“ (TSM 2.9.90) „Das Rad der polnischen Geschichte hat sich 45 Jahre lang nach links gedreht. [...] Heute wollen wir es nach rechts drehen.“ (RzP 15.1.90) „Wir müssen immer auf zwei Beinen stehen. Jede Gesellschaft braucht das Gleichgewicht.“ (TL 2.1.90) „Ich sagte, daß Polen zwei Beine braucht — ein rechtes und ein linkes. Und jetzt wiederhole ich, daß jeder zehn Zehen hat — warum probieren wir also nicht diese zehn Lösungen aus?“ (ZW 25.-26.8.90) Walesa setzt gerne derartige Sprachfiguren ein; sie haben die Funktion, komplexe Fragen mittels des Vergleichs mit einfachen zu erhellen; in diesem Prozeß darf die Struktur der Dinge nicht vereinfacht, sondern nur erklärt werden.

Wenn der Schleier der Erscheinungen endlich fortgezogen und die wahre Struktur der Welt enthüllt ist, wird sich der natürliche Ort der individuellen Elemente in all seiner Offensichtlichkeit erweisen: „Ich kann verlieren durch Manipulation, wenn sie mich nicht zu Versammlungen zulassen, mich vom Fernsehen fernhalten, mich ausschalten. [...] Ich glaube einfach nicht an mein Scheitern, wenn ich die gleichen Chancen habe. Denn ich meine es gut!“ (TSM 2.9.90)

Ebenso wie die Vison der „Dinge“, die nach der Natur der Dinge sich unseren Absichten unterordnen, so ist auch das Bild einzelner Menschen, die an diesen „Dingen“ beteiligt sind, nach ihrem Nutzen und ihrer Leistungsfähigkeit gestrickt: Wenn Walesa ein „Ding“ prüft, verfügt er über die menschlichen Ressourcen, die ihm zur Verfügung stehen (man erinnere sich an die notorische Rhetorik der „Ernennungen“ und „Entlassungen“ in bezug auf Wujec, Michnik und Najder, zusammen mit begleitenden Äußerungen: „Henryk Wujec, mein Kumpel, war für einen anderen Zeitraum eingeplant.“ „Ich stellte Michnik vor die Aufgabe, dies zu lösen.“ (GW 7.6.90)

„Ich würde es gern demokratisch tun — aber natürlich allein.“

Zum Abschluß wollen wir ein besonders charakteristisches Merkmal der Sprache Lech Walesas festhalten: Walesa widerspricht sich manchmal selbst, entweder in derselben Rede oder in verschiedenen Reden, die im gleichen Zeitraum gehalten werden. Wir hören, daß wir „in Polen zwei starke politische Bewegungen brauchen“. „Wir müssen sie aufbauen. Es wäre ein Fehler, sich für links oder rechts zu entscheiden. Wir brauchen immer zwei Beine. Jede Gesellschaft braucht ihr Gleichgewicht. Und wir sollten anfangen, es aufzubauen.“ (TL 2.1.90) Zwei Wochen später jedoch sagt Walesa: „Das Rad der polnischen Geschichte hat sich 45 Jahre lang nach links gedreht. [...] Jetzt wollen wir es nach rechts drehen.“ (RzP 15.1.90) Manchmal widerspricht sich Walesa bewußt, provokativ, zum Beispiel antwortete der Gewerkschaftsvorsitzende, als er nach der Methode zur Wahl des Stellvertreters gefragt wurde: „Ich würde es gern demokratisch tun — aber natürlich allein.“ (TS 4.5.90) Am häufigsten jedoch sind Walesas Äußerungen zweideutig, um nicht zu sagen dialektisch. Um ein weidlich ausgebeutetes Beispiel zu nennen: „Hah! Es wird kein Scheitern geben, weil ich mit dem Volk bin! Ich kann durch Manipulationen verlieren, wenn sie mich nicht zu Versammlungen zulassen, mich vom Fernsehen fernhalten, ausschalten. [...] Außerdem, wenn sie ihre Probleme besser lösen als ich, wird auch das mein Sieg sein! Im Namen einer guten Sache zu verlieren, ist auch ein Sieg. Jesus Christus verlor, aber er triumphierte! [...] Nicht daß ich mich mit Jesus Christus vergleichen möchte! Ich glaube einfach nicht an eine Niederlage, wenn ich die gleichen Chancen habe. Denn ich meine es gut!“ (TSM 2.9.90) Innerhalb derselben Äußerung läßt der Sprecher zwei sich gegenseitig ausschließende Möglichkeiten offen — Erfolg und Niederlage bei den Wahlen. Psychologisch läßt sich der innere logische Widerspruch erklären durch seine inkonsistenten Ansichten, und darüber hinaus würde man beim Hörer eine kognitive Dissonanz erwarten. Da aber der soziale Empfänger der Botschaft Walesa nicht für widersprüchlich hält, sondern, im Gegenteil, seine Konsistenz betont, wollen wir die psychologische Perspektive verlassen und nach anderen Erklärungen dieses Phänomens suchen.

Gemessen an pragmatischen Kriterien des politischen Diskurses erweist sich die Art, wie Walesa mit der Gesellschaft kommuniziert, als konsistent, effizient und wirksam. Auf dieser Ebene verlieren die logischen Widersprüche ihre Relevanz; Meinungen, die sich sonst gegenseitig ausschlössen, werden auf verschiedenen Ebenen wirksam, dienen anderen Zwecken, werden in verschiedenen Zusammenhängen geäußert. Wenn notwendig, entdecken wir, daß Lech Walesa ausländisches Kapital nach Polen bringen wird und damit allgemeinen Wohlstand schafft; ein andermal hören wir das Versprechen, Lech Walesa werde den Ausverkauf Polens nicht zulassen. Den Bauern in Mlawa verspricht er, daß „die Dinge in Ordnung kommen“; einige Tage später erleben wir ein öffentliches Dementi. Der logische Widerspruch kann auch als Ergebnis der Koexistenz und Vermischung des Beschreibenden und des Normativen auf der gleichen Ebene erscheinen, wie in dem zitierten Beispiel: Es kann geschehen, daß Lech Walesa nicht Präsident wird und daß Lech Walesa Präsident wird, weil er „es gut meint“; die zweite Äußerung, formal beschreibend, ist in Wirklichkeit ein moralischer Appell.

Die Beschränkungen der gewählten Methode der Analyse sind uns nur allzu klar. Lech Walesa ist vor allem ein Redner, nicht ein Autor geschriebener Texte. Die Notwendigkeit beschränkte uns darauf, uns in unseren Überlegungen auf die natürlich vereinfachten Transkriptionen der Reden Lech Walesas zu beziehen. Jede Aufzeichnung einer solchen lebendigen Rede impliziert, wie wir gut wissen, eine gewisse Interpretation. Eine zusätzliche interpretative Schicht ergibt sich, wenn die Transkription mit der Übersetzung in eine ausländische Sprache verbunden wird. Lech Walesa klagt manchmal über — polnische wie ausländische — Journalisten, sie „verzerrten“, was er sage. Diese Anklage gründet sich auf die Voraussetzung, daß es möglich sei, das Gefühl einer lebendigen Rede im geschriebenen Wort getreu wiederzugeben. Es lohnt sich hinzuzufügen, daß die Trans

kription oder Übersetzung der Äußerungen Lech Walesas häufig durch ihre Zweideutigkeit sehr erschwert wird. In Situationen wie dieser muß der gutwillige Autor einer Transkription oder Übersetzung bis zu einem gewissen Grade vom Original abweichen, um den Sinn der Botschaft zu rekonstruieren.

Erstveröffentlichung in der polnischen Zeitschrift 'Teksty‘. Beide Autoren sind Soziologen und arbeiten an der Universität Warschau beziehungsweise Lódź. Aus dem Englischen von Meino Bühning.

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