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»Das hatten wir schon 40 Jahre lang«

■ Pankower Eltern und Schüler fühlen sich bei der Umstrukturierung der Schulen übergangen/ Gestern deshalb Schulstreik

Pankow. Eine Schülerin hatte es dem Pankower Bildungsstadtrat, Alex Lubawinski, schon am Abend vorher angekündigt: Wenn Sie nicht unser Schulkonzept akzeptieren, streiken wir. Gestern früh ließ dann die Hälfte der SchülerInnen der 2. Oberschule ihren Ranzen zu Hause. Sie boykottierten den Unterricht. Draußen auf dem Hof debattierten die Eltern aufgeregt den für sie nicht tragbaren Stadtratsbeschluß. Entgegen ihren Vorstellungen soll die 2. Oberschule nämlich in eine Grundschule mit besonders musischer Ausrichtung umgewandelt werden.

Dies erfuhren sie am Abend zuvor auf einer Gesamtelternversammlung. Die hatten sie einberufen, um noch einmal das von ihnen favorisierte Konzept einer integrierten Gesamtschule mit musischer Ausrichtung zu verteidigen. Das Modell für 13 Klassen hatten die LehrerInnen mit ihrer Schulleiterin Roswitha Löser nach der Wende erarbeitet. Nachdem es im Magi-Senat bestätigt wurde, ließ sich die Hälfte der jetzigen SchülerInnen in diesem Schuljahr hierher umschulen. Nach dem neuen Konzept müßten nun aber alle Jungen und Mädchen ab der 7. Klasse wieder die Schule wechseln. Leistungsklassen würden wieder auseinandergerissen und das musische Kursangebot der Schule ginge damit verloren, befürchten die Betroffenen.

Wenn das schon nicht die Eltern verstehen, wie dann erst die Kinder, fragte man sich in der überfüllten Aula. Dort herrschte dicke Luft. Etwa 200 Eltern wehrten sich heftig dagegen, daß »irgendwelche Entscheidungen am grünen Tisch« über ihre Köpfe hinweg gefällt werden. Das würden sie sich nicht wieder bieten lassen, das hätten sie »40 Jahre lang gehabt« und jetzt würden sie endlich ihre Vorstellungen umsetzen wollen. Schließlich habe man schon ganz andere Beschlüsse gekippt. Als man sich über den Ablauf des Schulstreikes nicht so schnell einigen konnte, brummte ein Vater ungehalten: »Wenn wir früher so zögerlich gewesen wären, stünde die Mauer heute noch.«

Die eingeladenen Senatsvertreter waren nicht erschienen, (»wahrscheinlich aus dem gleichen Grund, weshalb sich Kohl hier nicht hertraut«), dafür der vom Senat in den Osten geschickte Westberliner Bildungsexperte Jürgen Günther. Er klärte die wütenden Eltern über die Unmöglichkeit auf, ihre Forderungen zu realisieren. Im Gegensatz zu den neuen Bundesländern gäbe es in Berlin ab August ein gemeinsames Schulgesetz. Dies sei das Westberliner — und zwar deshalb, weil die Ostler die Einheit ja schließlich gewählt hätten. Außerdem, so Günther weiter, mag das Demokratieverständnis aus der Wendezeit ganz gut gewesen sein, aber in so einem komplizierten Rechtssystem wie dem bundesdeutschen komme man mit »Runden Tischen« nicht weiter.

Er wolle zwar nicht oberlehrerhaft sein, hatte Günther vorher gesagt, doch so empfanden das die meisten Eltern. Mit Pfiffen und Buhrufen forderten sie die »Herren da vorne« auf, zur Sache zu kommen. Das Gesamtschulmodell sei deshalb abgelehnt worden, so Günther, weil die Voraussetzungen dafür nicht gegeben sind. Mit einer dreizügigen Gesamtschule hätte man schon eine Ausnahme machen müssen, aber selbst dafür fehlen die notwendigen Klassenräume. Nach drei Stunden war auf beiden Seiten die Schmerzgrenze des Ertragbaren erreicht — die Bildungspolitiker wollten den Abend schon vorzeitig abbrechen.

Viele Eltern begreifen nicht, wieso Ausnahmen unmöglich sein sollen, wenn sie doch auch in WestBerlin üblich sind. Bildungsstadtrat Lubawinski müsse den gesamten Bezirk im Auge behalten und könne nicht »alle Extrawünsche erfüllen«. Sicherlich, so Lubawinski, werden auch alle Eltern die gleichen Chancen für ihre Kinder wollen.

Die Umstrukturierung des Ostberliner Schulsystems in einer so kurzen Zeit durchzudrücken, halten die Eltern jedoch für unrealistisch. Was in Jahrzehnten im Westteil der Stadt wachsen konnte, soll hier, wundern sie sich, in einem halben Jahr entstehen. Von Chancengleichheit könne dabei kaum die Rede sein. Normen und Maßstäbe des Gesetzes würden strenger und bürokratischer angelegt als notwendig. Da werden zum Beispiel 70 Quadratmeter große Fachräume vorgeschrieben, die es jedoch nicht einmal in West-Berlin an jeder Schule gibt. Deshalb seien die Eltern auch bereit, »Übergangslösungen hinzunehmen«. Für diese Zeit würden sie sich sogar einschränken. Sie bieten den Schulpolitikern an, das zu machen, was sie die ganzen letzten Jahre gemacht haben: zu improvisieren. anbau

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