: „Und Herr Kollege Honecker ...“
„... äh, Vogel ...“/ Wie dem Bundeskanzler einmal herausrutschte, was er von Sozialdemokraten wirklich hält/ Außer diesem Versprecher gab's vom Kanzler gestern im Bundestag nur Selbstlob ■ Von Ferdos Forudastan
Bonn (taz) — Heftige Kritik mußte gestern im Bundestag die Bonner Regierung über sich ergehen lassen. Vor allem die kleinen Oppositionsfraktionen verurteilten am zweiten Tag der diesjährigen Haushaltsberatungen Helmut Kohls Wirtschafts- und Strukurpolitik seit der deutschen Vereinigung: Sie führe zu einer neuen Teilung Deutschlands, sagte Klaus-Dieter Feige von der Fraktion Bündnis 90/Grüne. „Ich möchte alle Ungerechtigkeiten herausschreien“, rief der Abgeordnete aus Mecklenburg-Vorpommern und „Ich bin erschüttert. Das haben jene Menschen, die die deutsche Einheit vorbereiteten nicht verdient.“
Wie am Vortag sein Kollege Werner Schulz, forderte Feige den Kanzler auf, etwa nach Leipzig zu kommen und sich mit den arbeitslosen, verzweifelten BürgerInnen der ehemaligen DDR auseinanderzusetzen. Konkret warf er der „mit dem Aufbau überforderten Regierungscrew“ vor allem dies vor: „Ideologisch verblendet“ begegne sie den aktuellen Problemen mit Konzepten aus den 50er Jahren. Es herrsche heute aber eine völlig andere Situation als damals. Ideologisch auf das Eigentum fixiert habe die Bundesregierung selbst Investoren im Gebiet der ehemaligen DDR abgeschreckt und gleichzeitig „unerfüllbare Begehrlichkeiten“ geweckt. Man lasse die Werften schier zusammenbrechen, vergebe zuwenig Aufträge in die fünf neuen Bundesländer und habe erst sehr spät das Stadterneuerungsprogramm aufgestellt.
Auch vom PDS-Vorsitzenden Gregor Gysi bekam Helmut Kohl zu hören, wie wenig er sich um die wirtschaftliche Einheit Deutschlands kümmert: Die zentralistisch organisierte, undemokratisch besetzte Treuhandanstalt agiere betriebs- und nicht volkswirtschaftlich. Die Eigentumspolitik Bonns habe die BürgerInnen in der ehemaligen DDR verunsichert, vielen ginge es wirtschaftlich schlechter als zuvor: „Hören Sie auf, die Menschen dort so zu behandeln, als kämen sie aus dem Urwald und erkennen Sie an, daß auch diese Menschen Herz, Seele und Verstand haben und in den letzten 40 Jahren etwa geleistet haben.“
Deutlich milder gingen die Sozialdemokraten mit dem Bundeskanzler ins Gericht. SPD-Partei- und Fraktionschef Hans-Jochen Vogel warf dem Bonner Regierungschef vor, für die „Enttäuschungen“ der Menschen in der ehemaligen DDR verantwortlich zu sein, die „Größe der Aufgabe“ Einheit verkannt und die Zusammenarbeit mit der Opposition abgelehnt zu haben.
Er legte er der Bundesregierung konkret zur Last, daß sie nicht genügend Strukturhilfen gegeben und Aufträge vergeben habe. Insgesamt gab's vom SPD-Chef jedoch vor allem altbekannte Schelte für die Steuerlüge und Lob für die bundesdeutsche Außenpolitik der letzten Monate. Kohl habe mit seinem Versprechen, keine höheren Steuern zu erheben, die Menschen getäuscht, wiederholte Vogel. Die Behauptung des Kanzlers, er habe die durch den Golfkrieg und die Entwicklung in der Sowjetunion anfallenden Kosten so nicht absehen können, sei eine Ausrede. So hätte die Bundesregierung schon in der ersten Hälfte des letzten Jahres gewußt, was Deutschland wirtschaftlich einbüße wenn der Osthandel eingeschränkt würde. Keinen „Anlaß zur Kritik“ fand Vogel dagegen in der Politik der Bundesregierung im Golfkrieg und in der Golfkrise.
Mit seinem Freudschen Versprecher „und Herr Kollege Honecker ... äh, Vogel“ erreichte der Kanzler in seinem Redebeitrag den absoluten Höhepunkt des Tages. Ein Wort der Selbstkritik zu seiner Regierungspolitik fand Kohl nicht. Die Steuerlüge wies er so zurück: Es sei bis vor kurzem noch nicht abzusehen gewesen, welche immensen Konsequenzen die Krise im Handel mit der Sowjetunion habe würde. Gleiches brachte er zum Golfkrieg vor. Überdies lobte er seine Regierung für ihre Wirtschaftspolitik: Sie stelle viel Geld für den Aufbau und Maßnahmen zur sozialen Sicherung wie zur Arbeitsplatzbeschffung zur Verfügung. In etwa drei bis fünf Jahren seien gleiche Lebensverhältnisse in ganz Deutschland erreicht, gelobte der Regierungschef.
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