Honecker: Der „eigenartige“ Fall

Genscher protestiert in Moskau pflichtgemäß und ohne großen Nachdruck/ Sowjetische Konservative begrüßen die Aktion als notwendigen Akt der Solidarität/ Wolgadeutsche drängen auf Unterstützung  ■ Aus Moskau K.H. Donath

Man hatte den Außenminister am selben Ort schon in besserer Laune gesehen — und das ist gar nicht so lange her. Vergangenes Jahr im Herbst versprühte er in Moskau noch Sektlaune, als man die verdutzten Sowjets in der Einheitsfrage glatt über den Tisch gezogen hatte. Gestern abend sah es im Moskauer Außenministerium so aus, als wäre Genscher zu Begräbnisfeierlichkeiten angereist. Sieben Stunden habe er insgesamt mit seinen sowjetischen Kollegen gesprochen, davon drei mit Präsident Gorbatschow. Was rausgekommen ist? Außer höflichen Worten zunächst einmal nichts. Es scheint an allen Ecken und Enden zu klemmen. In der Frage des Truppenabzugsabkommens, das eigentlich schon letzten Monat vom Obersten Sowjet der UdSSR hätte ratifiziert werden sollen, scheinen beide Seiten keinen Schritt vorwärtsgekommen zu sein. Ebenfalls mühsam müssen die Gespräche um die konventionelle Abrüstung verlaufen sein. Man habe keine Lösung gefunden, meinte Genscher, er sei aber zuversichtlich, noch zu einer Übereinstimmung zu gelangen. Genscher unterstrich, daß Deutschland mit seiner Selbstbeschränkung auf ein 370.000-Mann- Heer bereits eine nicht unbedeutende Vorleistung erbracht hätte.

Was den Genossen Erich Honecker angeht, so habe er den „großen Ernst“, mit dem die Bundesregierung die Sache betrachte, den Sowjets vorgetragen und den Eindruck gewonnen, die sowjetische Seite habe das „wohl verstanden“. Dies wurde von Beobachtern vor Ort allerdings als doppeldeutig verstanden. Dieser Skandal werde die Deutschen in der Sowjetunion noch eine ganze Weile begleiten, hatte Genscher gemeint. Auch der Sprecher des sowjetischen Außenministeriums nannte den Vorgang einen „eigenartigen“ Fall. Fast mit der gleichen Verlegenheit war auch in deutschen Delegationskreisen keine große Begeisterung dafür zu entdecken, den „eigenartigen Fall“ immer wieder auf die Tagesordnung zu heben. Ein wenig klarer wurde die deutsche Haltung auch durch die wiederholte Betonung Genschers, der das Datum der vollen deutschen Souveränität auf den 15. März, mit der Überreichung des ratifizierten Vertrages, legte. Da Honecker zwei Tage vorher von den sowjetischen Militärs nach Moskau geschafft worden war, konnte man technisch zumindest den Vorwurf der Souveränitätsverletzung streichen.

Einer der Führer der orthodoxen Sojus-Fraktion im sowjetischen Parlament, Oberst Viktor Alksnis, hat „die Flucht“ des früheren DDR- Staats- und Parteichefs Erich Honecker begrüßt. Im Obersten Sowjet sei während der Ratifizierungsdebatte über die Deutschlandverträge „mehrfach die Frage nach den Menschen aufgeworfen worden, die wir in Deutschland verraten haben“, sagte Alksnis in der Zeitung des Moskauer Stadtrates, 'Kommersant‘. „Ob wir es wollen oder nicht: diese Leute waren unsere Verbündeten. Sie verfolgten unsere Politik und handelten im Rahmen der Gesetze, die zur Zeit ihres Regierens gültig waren. Ich persönlich meine, das war ein richtiger Schritt. Als die Amerikaner 1975 Vietnam verließen, haben sie all ihre Anhänger mitgenommen.“

Wieder einmal haben die Sowjets den Deutschen ungewollt eine Problem vom Hals geschafft und sich selbst damit ein viel größeres eingeheimst. Berechtigterweise müssen sie sich fragen lassen, was sie eigentlich unter Souveränität verstehen. Den abtrünnigen Republiken und den Gegnern der Union haben sie damit wieder einmal einen Beweis ihres „kasuistischen“ Souveränitsverständnisses geliefert.

Genscher sagte weiter, er habe Gorbatschow gebeten, in allernächster Zukunft Repräsentanten der Rußlanddeutschen zu empfangen, um sich ein klares Bild der Probleme dieser Volksgruppe zu verschaffen. Dem Besuch messe er, so Genscher eingangs, große Bedeutung bei. Die Reformpolitik Gorbatschows werde man auch weiterhin aktiv unterstützen. Nur vermittelte Genscher auch hier nicht Zuversicht. Denn die für die inneren Reformen notwendige wirtschaftliche Kooperation hat sich anscheinend auch festgelaufen.