: „Geisterteilchen“ im Autobahntunnel
Europäische Wissenschaftler bauten unter der Erde eine Falle für Sonnen-Neutrinos/ Scheitert das 50-Millionen-Experiment? ■ Von Irene Meichsner
Auch die Wissenschaft macht am liebsten mit heroischen Ruhmestaten Schlagzeilen. Umso peinlicher ist es dann, wenn sie sich ausgerechnet von einem ihrer ehrgeizigsten Projekte wegen unvorhergesehener Widrigkeiten verabschieden muß. Dieses Damoklesschwert schwebt über einem rund 50 Millionen Mark teuren Experiment, zu dem sich Forscher aus ganz Europa tief unter die Erde vergraben haben.
In einem stillgelegten Autobahntunnel im italienischen Gran Sasso- Bergmassiv steht seit einigen Monaten ein Tank mit einer hundert Tonnen schweren Lösung aus dem chemischen Element „Gallium“. Der Tank soll als Falle für die Sonnen- Neutrinos dienen — jene geheimnisvollen Elementarteilchen, die direkt aus dem Herzen der Sonne kommen. Selbst unter Physikern heißen sie „Geisterteilchen“, weil sie extrem selten Verbindungen mit anderen Teilchen eingehen.
So wäre zum Beispiel ein einzelnes Neutrino, selbst wenn man ihm eine 150 Millionen Kilometer dicke Wand aus Stahl in den Weg stellen würde, allenfalls mit 50prozentiger Wahrscheinlichkeit aufzuhalten. Andererseits durchdringen in jeder Sekunde geschätzte 66 Milliarden Sonnen-Neutrinos jeden Quadratzentimeter unserer Erde. Einige von ihnen müßten den Wissenschaftlern demnach in die Falle gehen: Stößt ein Neutrino nämlich auf einen Gallium- Atom, entsteht ein Germanium- Atom. Dies ist radioaktiv und damit — so die Grundidee des Gallium-Experiments — „leicht“ nachzuweisen. Im November letzten Jahres wurde das Gallex-Laboratorium feierlich eingeweiht. Binnen zwanzig Tagen sei mit etwa zehn Neutrino-Treffern zu rechnen, hieß es damals. Inzwischen kämpfen unsere europäischen Spitzenforscher 1.200 Meter tief unter der Erde mit Millionen (!) radioaktiver Germanium-Atome. Was ist geschehen?
Natürlich wußten alle Beteiligten, daß die Gallium-Lösung absolut frei von Germanium sein müßte ehe man sich ans Zählen der Neutrino-Treffer machen konnte. Und sie wußten auch, daß dies über der Erde nicht zu bewerkstelligen sei. Denn dort wirkt die gesamte kosmische Strahlung auf den Tank ein. Gerade deshalb hat man sich ja in die Abruzzen vergraben: Nur Neutrinos durchdringen derart massives Gestein.
Abgeschirmt von allen störenden Einflüssen sollte die Gallium-Lösung zunächst von ihrer „natürlichen“ Kontamination mit Germanium gereinigt werden. Auch das schien kein Problem, hatte die Chemie dieses Atom doch bisher stets als ausgesprochen flüchtig beschrieben. Nach allen „normalen Maßstäben“ sei der Tank auch heute noch „hyper- und superrein“, sagt Till Kirsten vom Heidelberger Max-PLanck-Institut für Kernphysik — und darin wird man ihm recht geben müssen. Wenn bloß nicht jenes letzte und „lästige“ Zehntausendstel radioaktiver Germanium-Atome wäre, das sich offenbar ungebührlich benahm. Es ging eine unerwartet beständige chemische Verbindung — so Kirstens noch etwas hilflose Bilanz — mit „irgendwelchen Spurenstoffen“ in der Tanklösung ein. Fazit: Die Treffer von Geisterteilchen verschwinden in der Millionen-Masse „natürlicher“ Germanium-Atome — und unsere Forscher müssen Maßnahmen ergreifen, die sie mit jedem Schritt tiefer in den Schlamassel hineinzuziehen drohen. Jeder Eingriff in das kostbare Naß birgt die Gefahr der Verunreinigung. So wurde der Tank von ursprünglich 17 auf 42 Grad angewärmt. Man werde, sagt Kirsten, „vielleicht noch ein paar Grad höher“ gehen. Indes: „Sie müssen ja heizen ohne etwas zu zerstören.“ Eine teuflische Situation. Sollte das Aufheizen der Brühe erfolglos bleiben, ist schon an „Maßnahmen chemischer Natur“ gedacht, aber die scheinen so furchterregend, daß der Mann vom Max-Planck-Institut darüber nicht sprechen mag. „Es muß einfach funktionieren“, meint er stattdessen. Und: „Wir werden uns von Journalisten nicht unter Druck setzen lassen.“
Noch verbreitet das Forscherteam („Wir haben nie gesagt, daß das Experiment leicht ist“) „gedämpften Optimismus“ — von irgendwelchen Zweifeln am Sinn des Experiments wurde noch nichts bekannt. Dabei ist man sich offenbar darüber im klaren, daß, wer den Schaden hat, für den Spott bekanntlich nicht sorgen muß. Bestenfalls brauchen wir uns nur zu gedulden, bis die Gallium-Lösung „sauber“ ist — wobei sich jeder engagierte Laie wohl fragen wird, wie man jemals mit Sicherheit sagen will, daß die Gegenwart eines radioaktiven Germanium-Atoms in dem unterirdischen Tank wirklich auf den Treffer durch ein Sonnen-Neutrino und nicht auf Schmutz in der Lösung zurückzuführen ist.
Sollte das heikle Experiment endgültig scheitern, bliebe der Wissenschaft nur der schwache Trost, daß es um Haaresbreite erfolgreich gewesen wäre. Denn die ärgerliche Geschichte von dem „lästigen“ Zehntausendstel störrischer Germanium- Atome ließe sich auch so formulieren: „Zu 99,99 Prozent verlief alles wie geplant.“
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